Im 18. Jh. etablierte sich der Begriff M. in der Kunstgeschichtsschreibung als Bezeichnung für die ausgehende Renaissance, die man als eine Zeit des Verfalls ansah. Für Luigi Lanzi (Storia pittorica d’Italia 1795/96) betraf dies die italienische Malerei nach Raffael. Bis zu Beginn des 20. Jh.s wurde diese Zeitspanne negativ beschrieben, wie noch bei Heinrich Wölfflin (Die klassische Kunst 1898), der damit den Verfall mittelitalienischer Kunst des 16. Jh.s meinte. Schließlich wurde der Begriff ganz allgemein für die Endphase einer Epoche bzw. die Bezeichnung eines Gegensatzes zum „Klassischen“ (Klassizismus, Wiener Klassik), „Geordneten“ verwendet.
Auch im Musikschrifttum wurden die Termini „maniera“/„Manier“/„manière“ zunächst für die „Art und Weise“ zu komponieren oder etwas musikalisch auszuführen („à la manière de“) verwendet. Dabei bekamen sie im Bereich der Gesangskunst besondere Bedeutung. Die „nobile maniera di cantare“ wurde zum Lehrgegenstand, v. a. für den Vortrag der Monodie mit den ihr eigentümlichen Verzierungen. In der Singkunst gelangte der Begriff auch in die deutschsprachige Literatur (Michael Praetorius spricht von der Singkunst Singkunst „uff jetzige Italienische Manier“, Syntagma musicum 3 [1618]; Christoph Bernhard legte seine Lehre von der Singe-Kunst oder Manier vor). Schließlich war damit auch die Verzierung der Instrumentalmusik gemeint. Neben dem musikalischen, für Verzierung stehenden Begriff erörterte man erst im 19. Jh. auch den kunstästhetischen, wie im Musikalischen Conversations-Lexikon von Mendel/Reissmann (1877), wo Manier oder Manieriertheit mit Künstelei oder Epigonentum gleichgesetzt wird. Der von der Kunstgeschichte beeinflusste G. Adler verwendete den Begriff für seine Überlegungen zur Periodisierung der Musikgeschichte, wobei der Abstieg von Stilperioden (Stil) für ihn durch eine „Manierierung“ charakterisiert ist (Methode der Musikgeschichte 1919). Trotz dieser Beispiele aus der Musikgeschichtsschreibung wurde der Begriff auch weiter (außer als Synonym für Verzierung) v. a. im Bereich der Kunstgeschichte angewandt.
Die kunsttheoretischen Auseinandersetzungen in den 1920er Jahren brachten eine Neuentdeckung und Umwertung des Begriffs, indem man ihn als ein Gebilde eigener Qualität beschrieb. In der Betonung des Subjektiven und in der Deutung eines „antiklassischen“ Stils sah man Parallelen zur Gegenwart. Die Diskussionen beschränkten sich jedoch auch weiterhin v. a. auf den Bereich der Kunstgeschichte. Ausnahmen in der Musikgeschichtsschreibung waren Hilmar Trede (M. und Barock 1928) und Leo Schrade (Von der „maniera“ der Komposition 1932).
Für eine Universalisierung des Begriffs waren die Ausführungen des Literaturwissenschaftlers Ernst Robert Curtius (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 1948) mitverantwortlich, dessen Popularität sich in der Ausstellung Triumph des M. 1955 in Amsterdam und zahlreichen Publikationen in den 1960er Jahren widerspiegelte. In dieser Zeit erscheinen nun auch im Bereich der Musik vermehrt Aufsätze, die sich mit der Problematik „M.“ beschäftigten (Helmut Hucke, Heinrich Besseler, Hellmuth Christian Wolff, Maria Rika Maniates, Lorenzo Bianconi, Willem Enders, Don Harrán, H. Federhofer), und 1970 (Brünn) und 1973 (Rom) beschäftigten sich 2 Kongresse mit dieser Thematik. So versuchte man bei dem Erstgenannten, parallel zu den künstlerischen Äußerungen der inzwischen als Manieristen bezeichneten Maler am Hof Rudolphs II. (Arcimboldo, Bartholomäus Spranger, Hans v. Aachen und Joseph Heintz) auch die Komponisten von diesem Gesichtspunkt aus zu beschreiben, wie dies W. Pass an Hand der Madrigali spirituali des Ph. de Monte versuchte, oder Theodora Straková, die sich diesbezüglich Gedanken über J. Gallus machte. Diese Auseinandersetzungen lehnten sich immer noch sehr stark an kunsthistorische Vorstellungen an, die ihrerseits unterschiedliche, oft widersprüchliche Definitionen boten. Die Aufnahme des Begriffs in die Musikterminologie passierte daher eher zögerlich und blieb nicht unwidersprochen. In den 1980er Jahren ließ das Interesse an einer derartigen Auseinandersetzung nach. Allerdings hatte sich der Begriff M. im Musikschrifttum, v. a. für die Zeit des ausgehenden 16. Jh.s, etabliert. Neue Ansätze erwartet man sich durch die Übernahme von Kategorien aus der Literaturwissenschaft in der Stildiskussion. Hier versucht man, mit „Verfremdung“, der kunstvollen Umkehrung der traditionellen Regelsysteme den Begriff zu beschreiben, wie dies für die Musik des 20. Jh.s z. B. von Hans Zender (Happy New Ears 1991) angewandt wurde.
V. Ravizza in Mf 34 (1981); MGG 5 (1997); L. Schrade in ZfMw 16 (1934); H. Ch. Wolf in Mf 24 (1971); H. Hucke in H. Poos (Hg.), [Kgr.-Ber.] Kunst als Antithese: Karl-Hofer-Symposion 1988 der Hsch. der Künste Berlin 1990; W. Pass in R. Pečman (Hg.), [Kgr.-Ber.] Musica Bohemica Europaea Brno 1970 , 1972; H. Federhofer in Dt. Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgesch. 44/3 (1970); H. Federhofer in H. Hüschen/D. R. Moser (Hg.), [Fs.] W. Boetticher 1974; H. Federhofer in Archiv für Begriffsgesch. 17/2 (1973); W. Seidel in ÖMZ 42/5 (1987).