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Psychoakustik
Untersucht die Beziehungen zwischen den physikalischen Schallwellen der Musik und deren Interpretationen durch den Menschen. Sie ist ein Teilgebiet der Psychophysik und erforscht die psychologischen Korrelate der physikalischen Parameter der Akustik, also des Schalls, sowie dessen Produktion, Übertragung und seine Wirkungen. Heute erforscht die P. die physikalischen Einwirkungen der akustischen Signale auf das bewusste Erleben und versucht die gegenseitigen Beziehungen in formalisierbaren und dynamischen Modellen zu erfassen. Bis vor wenigen Jahrzehnten beschäftigte sie sich hauptsächlich mit den Leistungen des peripheren auditiven Systems und weniger mit kognitiven Prozessen.

Man bezeichnet das bewusste Aufnehmen und Interpretieren von Signalen als Wahrnehmung (Perzeption). Dabei wandeln die Sinnesorgane (hier das Gehör) die physikalischen Energien in Erregungen der afferenten (in Richtung Cortex aufsteigenden) sensorischen Nerven um. Diese Erregungen können in Form von Nervenaktionspotentialen beobachtet werden. Jede Stufe des neuronalen Systems verarbeitet die ursprünglichen Signale zu höher strukturierten Informationseinheiten. Im Zentralorgan, der Großhirnrinde (Cortex), findet dann die endgültige Verarbeitung und Einordnung in das bewusste Erleben statt. Insbesondere die Neuropsychologie hat sich der Erforschung der letztgenannten Aspekte angenommen.

Es war Hermann v. Helmholtz, der 1863 mit der ersten Auflage seines Buches Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik den Grundstein für die P. legte. Er verband die physikalische Akustik mit der physiologischen einerseits sowie mit der Musikwissenschaft und Ästhetik andererseits. In der Folge haben die Arbeiten Georg v. Békésys, Wever & Brays usw., etwa um 1930 beginnend, auf dem Gebiete der Hörtheorien Bahn brechende Erfolge in der P. gebracht, die heute noch als kräftiges Stimulans auch auf rein psychologische und musikwissenschaftliche Fragestellungen wirken.

Gelegentlich werden die Aufgaben der P. mit der Erforschung der Wahrnehmung von Musik, von Sprache und von sonstigen, beispielsweise aus der Umwelt stammenden Schällen bzw. deren beliebiger Kombination, umrissen. Die Akustik allein kann keinen Unterschied zwischen Signal und Hintergrund oder etwa zwischen mehrfach zusammenwirkenden musikalischen Stimmen erkennen. In den an das Ohr übertragenen Schallwellen sind alle additiv enthalten. Das auditive System differenziert dagegen klar, ohne jegliche Änderung der physikalischen Reizparameter, zwischen dem Hintergrund, etwa der musikalischen Begleitung, und der tragenden Stimme. Man könnte diese musikalischen Leistungen des Gehörs auf einer Skala zwischen den beiden Eckpunkten: höchste Diskriminationsleistung bei gleichzeitig unbeeinträchtigter Integrationsfähigkeit und umgekehrt sehen.

Die P. hat für die Erforschung der sensorischen Grundfunktionen, der technischen Daten des auditiven Systems, für das physikalisch-physiologische Ausmessen des Gehörs, wie absolute Schwellen, Unterschiedsschwellen, Maskierungseffekte, Skalierung der Lautstärke, Skalierung der Tonhöhe usw. sehr lange Zeit und große Mühe aufwenden müssen. Das geschah in den letzten 70 Jahren, wobei die Empfindlichkeit des auditiven Systems in Bezug auf die Detektierbarkeit minimaler Veränderungen der akustischen Reizparameter gelegentlich die apparativen und experimentellen Möglichkeiten einer Untersuchung entweder überstieg oder, knapp an der Leistungsgrenze des psychoakustischen Labors, Anlass zu Fehlern und Artefakten gab. Kurz gesagt, lange Zeit übertrafen die biologischen Hörsysteme die dem Experimentator zur Verfügung stehenden Messapparaturen in Leistung und Genauigkeit.

Unter dem Einsatz modernster Methoden – u. a. der digitalen Signalverarbeitung und elaborierter psychoakustischer Modelle (Computational Hearing) – gelingt heute (2004) eine wesentlich umfassendere und gleichzeitig exaktere Betrachtungsweise musikalischer Phänomene und kognitiver Prozesse, die der Praxis erheblich näher kommt und nicht mehr nur isolierte Laborexperimente zulässt.

Die moderne P. bietet bereits jetzt eine solide Grundlage für die Wahrnehmung der Tonhöhe, die neben der Frequenz wesentlich auch von der Klangfarbe abhängt. Psychoakustische Tonhöhenmodelle erklären auch die Tonhöhe nichtharmonischer Klänge und mehrdeutiger Akkorde (spektrale und virtuelle Tonhöhen). Mehrdeutigkeiten bieten gerade der Musik zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten mit offenen Interpretationsräumen. Die traditionelle Frage der Klangfarbe, deren verbale Beschreibung in Hunderten von Attributen, Substantiva und Verben nur unzureichend gelingt, erfährt auf psychoakustischer, nonverbaler Basis eine neue Fassung, in deren Rahmen bereits praktische Klassifikationen in den Internetportalen der Musikindustrie Anwendung gefunden haben. Die Entstehung von Rhythmen baut auf der psychoakustischen Grundfunktion der zeitlichen Kohärenz auf, die Trennung (Fission) und Verschmelzung (Fusion) unter Einbeziehung spektraler Kongruenz zu guten Zeitgestalten regelt. Die P. sagt voraus, unter welchen Bedingungen auditorische Streams getrennt oder miteinander verschmolzen gehört werden können, welche Komponenten zusammengehörig bewegt oder isoliert und zeitlich abgesetzt erscheinen. Ansätze zur Modellierung relativ kurzer perzeptiver und kognitiver Zeitfenster, gezielter Aufmerksamkeitslenkung in Wechselwirkung mit individueller musikalischer Erfahrung und Erwartung, lassen uns die enorme Simultankapazität beim Hören von Musik erkennen, die weithin offene Interpretationsmöglichkeiten und emotionale Effekte erklärt.


Literatur
American National Standards Institute, Inc., American National Standard Psychoacoustical Terminology ANSI S3.20-1973 (= amerikanische Standardterminologie zur P.); H. v. Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik 1863, 61913; G. v. Békésy, Experiments in Hearing 1960; E. G. Wever/C. W. Bray in Journal of Comparative Psychology 22 (1936); E. Terhardt, Akustische Kommunikation 1998.

Autor*innen
Werner A. Deutsch
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Werner A. Deutsch, Art. „Psychoakustik‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001de0e
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