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Tropus
Sammelbegriff für eine Vielzahl von Erweiterungsmöglichkeiten bereits bestehender liturgischer Gesänge ab dem 9. Jh. Das „authentische“ Stammrepertoire des fränkisch-römischen Chorals („gregorianischer Gesang“, z. B. ca. 650 Gesänge für die Messe), welches ab 750 entstanden und von K. Karl d. Gr. (admonitio generalis 789) obligatorisch für die Liturgie in seinem Reich vorgeschrieben worden ist, erhielt bald nach 800 diverse Ergänzungen in Form von Zusätzen zu den schon vorhandenen Primär- oder Stammgesängen. Dies wurde bereits 845 auf der Synode von Meaux/F vergeblich verboten. Die in Nordfrankreich („hypothèse lotharingienne“, Pierre-Marie Gy) und/oder Aquitanien entstandenen neuen Formen breiteten sich innerhalb kürzester Zeit in ganz Europa aus, um im 10. und 11. Jh. zur höchsten Blüte zu gelangen. Der früheste deutsche Beleg stammt aus der Salzburger Kirchenprovinz: die Prosula Psalle modulamina (eine Textierung der Melismen des Alleluia. Christus resurgens) in einem vom Regensburger Mönch Engildeo um 830 geschriebenen Kommentar zum Lukas-Evangelium des Ambrosius (die ältesten bekannten deutschen Neumen). Notker der Dichter wurde in St. Gallen/CH durch einen flüchtenden Mönch aus Jumièges/F um 860 mit Prosulae bekannt und entwickelte die Technik des Tropierens weiter zur eigenen Gattung der Sequenz.

Neben dem weniger starken international verbreiteten Bestand sind es v. a. die lokalen Repertoires, die dem Phänomen T. seine vielschichtigen Erscheinungsformen geben. Seit dem 12. Jh. reduziert sich Vorkommen, Überlieferung und Neuproduktion von T.en drastisch, die „Troparia tardiva“ (A. Haug) sind nur mehr „Kurztropare“ mit je eigenem Profil. Monastische Reformbewegungen standen den T.en reserviert bis ablehnend gegenüber, aber selbst das zisterziensische T.en-Verbot konnte sich nicht lückenlos halten, wie etwa die Handschriften aus Neuberg an der Mürz/St zeigen. Mit der Verbreitung römischer Liturgiebücher nach dem Konzil von Trient verschwanden T.en aus der gottesdienstlichen Praxis.

Die Terminologie des Mittelalters ist nicht einheitlich: Begriffe wie tropus, laus (laudes festivae), sequentia, longissima melodia, prosa, prosula, versus, verbeta usw. bezeichnen verschiedene Ausprägungen des Phänomens T. (und führen immer wieder auch zu Unschärfen und Verwechslungen in Bezug auf die Gattung Sequenz). Allen gemein ist jedoch die Tatsache, dass T.en nie selbständig für sich existieren, sondern immer in einer Abhängigkeit zu einem Stammgesang stehen. Je nach Art der Zusätze spricht man (M. Huglo) von meloformen T. (rein melodische Zusätze: Melismen), melogenen T. (rein textliche Zusätze: Austextierung von Melismen) und logogenen T. (zusätzliche text-melodische Einheit). T.en sind mit fast allen Gattungen des gregorianischen Repertoires verbunden (z. B. Introitus-T., Sanctus-T., Responsoriums-T.), erscheinen als Einleitungs-, Binnen- oder End-T., treten (v. a. in späterer Zeit) einzeln auf oder als T.en-Komplexe mit ihren einzelnen T.en-Elementen. T.en sind ursprünglich Festgesänge und stehen zu ihren Primärgesängen in einer spannungsvollen Beziehung, deren Gegensätzlichkeit man mit Wortpaaren wie alt-neu, feststehend-wechselnd, überregional-lokal, allgemein-individuell, fremd-eigen, Bibeltext-Dichtung, substantiell-ornamental usw. (nach A. Haug) beschreiben könnte. Liturgietheologisch gesehen sind T.en – meist Prosadichtung, erst spät versifiziert – poetisch-musikalische Kommentare zu den Stammgesängen, Interpretation, Verdeutlichung, Vertiefung zentraler theologischer (Fest-)Inhalte. T.en sind als Sologesänge ursprünglich in eigenen Büchern überliefert, die für Vorsänger bestimmt waren und Bezeichnungen wie Cantatorium, Cantionar, Tropar, oder Tropar-Sequentiar trugen.

Eine österreichische Überlieferung von T.en ist in Orten wie Admont, Brixen, Garsten, Göttweig, Innichen/Südtirol (San Candido/I), Klosterneuburg, Kremsmünster, Melk, Salzburg St. Peter, St. Florian, St. Pölten, Seckau und Vorau beheimatet. Überall ist der St. Galler Weihnachts-T. Hodie cantandus est (zum Introitus Puer natus est) nachweisbar. Die Augustinerchorherren verwendeten üblicherweise Introitus-T.en auch für Stephanus, Johannes und Unschuldige Kinder. Der Hirsauer Oster-T. Postquam factus homo erscheint in benediktinischen Quellen (Salzburg St. Peter, Admont, Kremsmünster, Melk), aber vereinzelt auch in Seckauer Handschriften. Größere T.-Sammlungen existierten in Kremsmünster (Hs. 309) und Seckau (Seckauer Cantionar: der Anhang zum Liber Ordinarius von 1345, A-Gu 756, mit 64 T.en zu Messe und Offizium). In Kremsmünster sind auch T.en für die großen Heiligenfeste zu finden, der Seckauer Cantionarius enthält etliche Ordinariums-T.en wie z. B. das in österreichischen Quellen selten ausgeschriebene Kyrie Cum iubilo für die Marienmesse. Andere T.en darin, wie z. B. das Kyrie fons bonitatis oder die Gloria-T.en der Marienmesse sind häufiger anzutreffen. Ein schönes Beispiel für eine sehr späte Dichtung ist der T. für den Kirchweihintroitus Ecce dies triumphalis: ein über den Stammgesang verteiltes vierstrophiges gereimtes Gedicht im Versmaß der späten Sequenzenstrophe. Im Seckauer Graduale magnum (A-Gu 17) steht auch das sehr selten überlieferte tropierte Alleluia. Salve mundi gloria. Bemerkenswert sind die zwei- und einstimmigen Kyrie-T.en in einem zisterziensischen Graduale aus Neuberg an der Mürz (A-Gu 9). Unbekannt ist die Herkunft der sog. Wiener Schottenfragmente (Schottenstift), Introitus-T.en zu den Hauptfesten.


Tondokumente
TD: Grazer Choralschola (Ltg. F. K. Praßl): Introitus. Gregorianik im Kirchenjahr 1996 (ORF-CD 058); Summi Regis in Laude. Gregorianischer Choral aus Seckau 1998 (Edition Seckau, BASCD 4).
Literatur
(Chronologisch:) W. Irtenkauf in Carinthia I (1955); W. Irtenkauf in AfMw 13 (1956); W. Lipphardt, Hymnologische Quellen der Steiermark u. ihre Erforschung 1974; B. Stäblein, Schriftbild der einstimmigen Musik 1975; B. Schmid, Der Gloria-T. Spiritus et alme bis zur Mitte des 15. Jh.s 1988; R. Flotzinger in Stud. mus. 31 (1989); R. Flotzinger, Choral-Hss. österr.er Provenienz in der Bodleian Library Oxford 1991; B. Asketorp in L. Dobszay et al. (Hg.), [Kgr.-Ber.] Cantus Planus. Pécs 1990, 1992; W. Arlt/G. Björkvall, Recherches nouvelles sur les tropes liturgiques 1993; A. Haug in Revue bénédictine 104 (1994); G. Silagi (Hg.), Liturgische T.en 1985; R. Camilot-Oswald, Die liturgischen Musik-Hss. aus dem mittelalterlichen Patriarchat Aquileia 1 (1997); MGG 10 (1998); A. Rusconi in Rivista Internazionale di Musica Sacra 22 (2001); O. Guillou in Etudes grégoriennes 31 (2003) u. 32 (2004); G. Baroffio in Rivista internazionale di musica sacra 25 (2004). – Ausg.: Analecta Hymnica 47 (1905) u. 49 (1906); Corpus Troporum 1975ff; G. Weiss (Hg.), Introitus-T.en 1 (1970); J. Boe (Hg.), Beneventanum Troporum Corpus 1989ff; A. Haug, Troparia tardiva 1995; J. M. Borders (Hg.), Early Medieval Chants from Nonantola 1996ff.

Autor*innen
Franz Karl Praßl
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2006
Empfohlene Zitierweise
Franz Karl Praßl, Art. „Tropus‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e512
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


DOI
10.1553/0x0001e512
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