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Bürgerliche Musikkultur
Das „Bürgertum“ bezeichnet ursprünglich eine in der Stadt wohnhafte, mit Hausbesitz ausgestattete und mit dem Bürgerrecht privilegierte Bevölkerung. Im Laufe des 19. Jh.s wurde der Begriff auch auf Unternehmer, Beamte, die Vertreter Freier Berufe (Ärzte, Anwälte, Journalisten), Lehrer, Wissenschaftler, Techniker und den josephinisch-aufgeklärten Teil des katholischen Klerus ausgedehnt und somit zum Besitz- und Bildungsbürgertum erweitert, das – zum Großteil liberal gesinnt – nicht nur die Revolution von 1848 trug, sondern auch die folgende Entwicklung (Verfassung, kritische Haltung zur Kirche, v. a. zum Konkordat). Im 20. Jh. zeigte sich das Bürgertum überwiegend als (wert-)konservativ, kleinbürgerliche Lebensformen griffen nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf Arbeiterschichten über.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit konnten Spielleute, die als Fahrende der Recht- und Ehrlosigkeit geziehen und daher der Verfolgung ausgesetzt waren, durch den Erwerb eines festen Wohnsitzes sesshaft werden und damit das Bürgerrecht erwerben, das Grundlage aller bürgerlichen Tugenden wie der Ehrbarkeit war. Berufsständische Zusammenschlüsse (am frühesten die St.-Nicolai-Bruderschaft in der Pfarrkirche zu St. Michael 1288, Bruderschaft) schufen ebenso wie die Errichtung eines Spielgrafenamtes ein soziales Netz zur Versorgung in Not geratener Musiker und ihrer Familien. Unter den ersten sesshaften Spielleuten gab es „fistulatores“ (Pfeifer, entweder Kombination Einhandflöte und Trommel oder Sackpfeife) und „Geigaer“ (Geiger). Sie musizierten in erster Linie zum Tanz. Als typisch bürgerliche Form der frühneuzeitlichen Musikausübung gilt der Meistersang. Seine Träger sind Handwerker („Meister“), die sich zu „Schulen“ zusammenschlossen (z. B. in Schwaz/T, Steyr/OÖ, Wels/OÖ, Eferding/OÖ), seine Ausübung ist – wie das bürgerliche Leben überhaupt – streng reglementiert. Meist besteht eine Bindung zur Reformation, wobei sich allgemein das städtische Musikleben als Ausdruck eines selbstbewussten Bürgertums bis zur Gegenreformation in den protestantischen Gebieten früher entfalten konnte, während die habsburgischen Zentren naturgemäß länger höfisch bzw. ständisch dominiert blieben. Als Mittel städtisch-bürgerlicher Repräsentation galt ferner die Turmmusik (bei der Ankunft eines hohen Besuches, brauchtümlichen Festen), ausgeübt von den Thurnermeistern und ihren Gesellen, die neben ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Stundenblasen, Warnung vor Feuer etc., auch für Tafel- und Tanzmusik, Hochzeitsfeiern u. ä. herangezogen wurden. Eine bedeutende Rolle für die städtische Musikpflege spielten weiters die Schulmeister, die mit ihren Schülern in erster Linie die Kirchenmusik besorgten.

Die Entwicklung einer eigenen Kultur des oben genannten Besitz- und Bildungsbürgertums seit dem späten 18. Jh., d. h. später als in London oder Paris, steht im Zusammenhang der Aufklärung und der Diskussionen um eine autonome Kunst (Musikästhetik). Ihre Etablierung im Vormärz (Biedermeier) ist nicht nur als Kompensation für fehlende politische Mitbestimmung zu sehen, sie ist auch Folge der zunehmenden Trennung von Arbeits- und Freizeit. Diese erklärt auch den steigenden Bedarf an Tanz- und Unterhaltungsmusik. Zu den Voraussetzungen bürgerlicher Kultur zählt eine Auffassung von bürgerlicher Bildung, die durch humanistische Bildung, die Beherrschung mehrerer Sprachen, Literatur-, Theater- und Kunstkenntnisse und ganz wesentlich durch ein Musikverständnis, das aktives Musizieren miteinschloss, gekennzeichnet war.

Gerade im Bereich der Kunst hatte anfangs sehr stark das adelige Vorbild gewirkt. So war der bürgerliche Salon adeligen Gesellschaften (d. h. Einladungen in das eigene Palais), Soireen und Akademien (Adel) nachgebildet. Die ersten Salons führten ab den 1780er Jahren F. v. Arnstein und die Familie von F. S. v. Greiner, dessen Tochter Karoline (verh. Pichler) den bekanntesten Wiener Biedermeier-Salon führte. Neben den Familien Genzinger, Keess und Auenbrugger war für die Frühzeit v. a. G. v Swieten bedeutend gewesen. Später folgten Hauskonzerte bei den Familien Zizius, Sonnleithner und Kiesewetter. In Graz wurde beispielsweise im Salon der Familie Pachler musiziert. In der zweiten Jh.hälfte dominierte in Wien der Salon des Arztes und Brahms-Freundes Th. Billroth. Daneben wurde auch in kleineren Salons Haus- und Kammermusik gemacht. Diese war gewiss nicht immer von überragender Qualität, zeugt aber von der Bedeutung der Musik für das bürgerliche Selbstverständis, so wie das für die Jh.e zuvor für den Adel gegolten hatte. Im Laufe des 19. Jh.s entstand als eigene Gattung die musikalisch eher simple, aber auf größtmöglichen Effekt oder aber Sentimentalität bedachte Salonmusik (vgl. das überaus beliebte Gebet einer Jungfrau von Thekla Badarzewska oder H. Prochs Lied Das Alpenhorn). In diesem privaten Rahmen wurden aber auch Werke großer Komponisten durch Bearbeitungen für kleine Besetzungen bekannt. Eigene Salonorchester boten darüber hinaus auch in der Öffentlichkeit (in Kaffeehäusern, Bällen, Casinos usw.) Unterhaltungsmusik.

Neben dieser privaten, mitunter auch halböffentlichen Form musikalischer Darbietungen wurde nach und nach das öffentliche Musikleben in einer Weise organisiert, die im Wesentlichen bis heute ihre Gültigkeit bewahrt hat. Das öffentliche Konzert ab den 1770/80er Jahren (Wien, Graz, Innsbruck, Klagenfurt) war bereits durch allgemeine Zugänglichkeit, erreichbar durch ein Entgelt, und bald regelmäßige Aufführungen gekennzeichnet. Konzerte fanden zunächst an spielfreien Tagen in Theatern statt, aber auch in Ballsälen, Kaffeehäusern, Casinos, Gaststätten und Parkanlagen (Wiener Prater, Augarten) und übertrafen bald die Adelskapellen an Bedeutung. Die Programme waren anfangs sehr bunt (Ouvertüren, Einzelsätze von Symphonien, vokale und instrumentale Bravourstücke, Chöre, Opernausschnitte, Rezitationen, Tableaux [lebende Bilder z. B. nach berühmten Gemälden]). Ausgeführt wurden diese Konzerte am Beginn noch von Liebhaber-Orchestern (Dilettanten, unter ihnen viele Adelige), die eventuell mit Berufsmusikern ergänzt wurden. Die Entwicklung ging aber bis zur Mitte des 19. Jh.s mehr und mehr in Richtung Berufsorchester (Wiener Philharmoniker). Veranstalter waren Komponisten (auch auswärtige wie F. Chopin, R. Schumann, Hector Berlioz), durchreisende Virtuosen (N. Paganini, F. Liszt, C. Wieck, Schwestern Milanollo, Henri Vieuxtemps), Musikergenossenschaften (ab 1772 Tonkünstlersozietät), Musikvereine, aber auch bereits früh professionelle Konzertveranstalter (z. B. Ph. J. Martin ab 1781). Verschiedene Vereinigungen (darunter auch Univ.sfakultäten) organisierten Wohltätigkeitskonzerte zugunsten von Witwen und Waisen oder Kriegs- und Katastrophenopfern. Aufgeführt wurden in erster Linie Oratorien.

Wichtige Konzertveranstalter (auch für Abendunterhaltungen) wurden in der Folge die Musikvereine. Stand zunächst noch das gemeinsame Musizieren der Mitglieder im Vordergrund und bildeten oft solche Liebhaberkonzerte den Auslöser zur Vereinsgründung, so verschob sich der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit immer mehr in Richtung musikpädagogischer (Musikvereinsschulen, Konservatorium) und organisatorischer (Veranstaltung von Konzerten) Aufgaben, die Entwicklung ging also in Richtung Professionalisierung des Musiklebens. Nach einigen meist kurzlebigen freien Vereinigungen seit dem späten 18. Jh., die keine kontinuierliche Musikpflege gewährleisten konnten, kam es in Laibach (Ljubljana) 1794 zur ersten Musikvereinsgründung, es folgten Prag (1808), Wien (1812, Gesellschaft der Musikfreunde), Graz (1815, Musikverein für Steiermark), St. Pölten und Innsbruck (1817), Linz (1821), Agram (Zagreb) (1827), Klagenfurt (1828), Salzburg (1841) sowie eine Anzahl kleinerer Orte. Dass die strenge Unterscheidung von adeliger und bürgerlicher Kultur nicht immer leicht zu treffen ist, zeigt u. a. das Beispiel Pressburg (Bratislava), wo J. v. Batthyány allgemein zugängliche Konzerte veranstaltete. Gerade in den Musikvereinen trafen, wie das Beispiel Wien zeigt, zunächst durchaus bürgerliche und adelige Bestrebungen zusammen, etwa in der Förderung eines gemeinsamen patriotischen Ziels (nach den napoleonischen Kriegen). Das josephinische Konzept einer Aufweichung der starren Standesgrenzen schien in der Musik ein wirksames Mittel gefunden zu haben. „Die Tonkunst wirkt hier täglich das Wunder, das man sonst nur der Liebe zuschrieb: Sie macht die Stände gleich. Adeliche und Bürgerliche, Fürsten und ihre Vasallen, Vorgesetzte und ihre Untergebenen sitzen an einem Pulte beysammen, und vergessen über der Harmonie der Töne die Disharmonie ihres Standes“ ([I. Mosel] in Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat 1808). Tatsächlich wurde das Bürgertum aber immer mehr die treibende Kraft des öffentlichen Musiklebens.

Während die Musikvereine das Selbstmusizieren auch aus einem gesteigerten Qualitätsbewusstsein heraus früher oder später aufgaben bzw. auslagerten (so gründete dieGesellschaft der Musikfreunde in Wien 1858 einen Singverein und 1859 einen Orchesterverein), blieb dieses bei den zahlreichen Gesang- und Orchestervereinen im 19. Jh. im Vordergrund der Vereinstätigkeit, verbunden allerdings zumeist mit einer deutsch-nationalen Gesinnung, die – zumindest am Anfang noch – wie bei den Musikvereinen mit einer vaterländisch-österreichischen durchaus Hand in Hand gehen konnte. In diesem Sinne entstanden Männergesangvereine (u. a. Kärntner MGV 1834, Wiener Männergesang-Verein 1843, Graz 1846, Klagenfurt und Salzburg 1847, Linz 1857, zahllose Gründungen ab den 1860er Jahren, Männergesang) und Liedertafeln (Linz 1845, Salzburg 1848). Während der Revolution von 1848 mussten viele dieser Vereine ihre Tätigkeit einschränken, da ihnen von Regierungsseite politische Aktivitäten unterstellt wurden. Sängerfeste und Sängerfahrten führten nicht nur österreichische Chöre zusammen, sondern waren insbesondere Ausdruck der Verbundenheit mit dem deutschen Nachbarn.

Neben der Gesellschaft der Musikfreunde spielten in Wien auch die 1819 gegründeten Concerts spirituels eine große Rolle für das Konzertleben (v. a. für geistliche und symphonische Musik), ferner die seit 1834 regelmäßig in der Winterreitschule stattfindenden Musikfeste mit ihren großen Oratorienaufführungen. Mit solch groß angelegten Aufführungen setzte sich das Bürgertum selbst ein Monument, wie es das im Übrigen auch durch die Aufstellung von Musikerdenkmälern tat (vgl. Mozart-Denkmal in Salzburg 1842, Gedächtnis, Gedenkstätten). Die monumentale, pathetische Musikvereinskunst („musikalischer Makartstil“) im späteren 19. Jh. kann durchaus als Pendant zum architektonischen Ringstraßenstil der Zeit gesehen werden. Mit den beiden dominierenden bürgerlichen Institutionen (Gesellschaft der Musikfreunde, Philharmonische Konzerte) konnte von Seiten des Hofes nur mehr die Hofoper mithalten, während die Hofkapelle diese Rolle schon längst eingebüßt hatte.

Den elitären Gesellschaftskonzerten und Philharmonischen Konzerten wurden um die Jh.wende Konzertreihen gegenübergestellt, die sich mit sog. Volkskonzerten an ein breiteres Publikum (Kleinbürgertum, aber auch Arbeiter, Arbeiter-Sinfoniekonzerte) wandten. 1900 konnte noch einmal unter der tatkräftigen Mithilfe des Wiener Großbürgertums das Konzertvereins-Orchester gegründet werden (aus dem letztlich durch Fusion mit dem 1907 gegründeten Wiener Tonkünstlerorchester die Wiener Symphoniker hervorgingen) sowie 1913 das Wiener Konzerthaus. Großbürgerliches Mäzenatentum wurde aber zunehmend durch staatliche Subventionierung abgelöst (vgl. Verstaatlichung des Konservatoriums 1909), ein Vorgang, der durch die beiden Weltkriege zur völligen „Dekomposition des Wiener Bürgertums“ (Bruckmüller) führte.


Literatur
MGÖ 1–3 (1995); E. Bruckmüller et al. (Hg.), Bürgertum in der Habsburger-Monarchie 1– (1990ff.); P. Gülke, Mönche, Bürger, Minnesänger 31998; E. Preussner, Die bürgerliche Musikkultur 1935; Jb. der Tonkunst für Wien und Prag 1796; P. Schleuning, Der Bürger erhebt sich 22000; O. Biba in [Kat.] Haydn 1982; M. Handlos, Studien zum Wiener Konzertleben im Vormärz, Diss. Wien 1985; E. Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien 1869; R. v. Perger/R. Hirschfeld, Geschichte der k. k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1912; H. Kaufmann, Eine bürgerliche Musikgesellschaft. 150 Jahre Musikverein für Steiermark 1965; R. Angermüller (Hg.), [Kgr.-Ber.] B. M. im 19. Jh. in Salzburg 1980, 1981; E. Reichl/E. Steinmann, Strukturen des bürgerlichen Mäzenatentums in Wien um 1900, 1994; C. Szabó-Knotik in S. Ingram et al. (Hg.), Identität, Kultur, Raum: kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nordamerika und Zentraleuropa 2001.

Autor*innen
Barbara Boisits
Letzte inhaltliche Änderung
18.2.2002
Empfohlene Zitierweise
Barbara Boisits, Art. „Bürgerliche Musikkultur‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 18.2.2002, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00020983
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