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Jugoslawien
Wörtlich „Südslawien“, erstmals realisiert nach dem Ende der Österreichisch-ungarischen Monarchie. (I) J. war der europäische Staat mit den größten Unterschieden, sowohl nach seinen naturräumlichen und kulturgeographischen Voraussetzungen als auch nach der historischen Entwicklung seiner Regionen. J.s elf historische Landschaften – die Untersteiermark, Krain, Istrien, Kroatien-Slawonien, Dalmatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Makedonien, Kosovo, Serbien, Vojvodina – und ihre Bewohner gehörten zu verschiedenen Kulturkreisen – dem mitteleuropäisch-alpinen, dem pannonischen, dem innerbalkanisch-dinarischen, dem osmanischen und dem mediterranen –, verwendeten viele Sprachen (Slowenisch, Serbo-Kroatisch in mehreren Varianten, Makedonisch, Albanisch, Türkisch, Ungarisch, Rumänisch, Deutsch, Italienisch), bekannten sich zu mehreren Religionen (Katholizismus, Orthodoxie, Islam, Protestantismus, Judentum) und schrieben in zwei Alphabeten (Latinica, Kyrillica). Diese ethnisch-sprachlich-konfessionell-kulturelle Vielfalt blieb im Wesentlichen bis in die jüngste Vergangenheit erhalten. Die Volkszählung von 1981 ergab bei 22,43 Millionen Einwohnern J.s folgendes Bild: Unter den sechs „Nationen“ J.s zählten die orthodoxen Serben 8,14 Millionen (36,3 %), die katholischen Kroaten 4,43 Millionen (19,8 %), die bosnisch-herzegowinischen Muslime 2 Millionen (8,9 %), die katholischen Slowenen 1,75 Millionen (7,8 %), die orthodoxen Makedonier 1,34 Millionen (6,0 %) und die orthodoxen Montenegriner 0,58 Millionen (2,6 %); 1,22 Millionen hatten sich als „Jugoslawen“ ausgewiesen. Unter den neun „Nationalitäten“ waren die überwiegend muslimischen Albaner mit 1,73 Millionen (7,7 %) die weitaus größte Gruppe, gefolgt von 427.000 Magyaren (1,9 %), ferner Roma, Türken, Slowaken, Rumänen, Bulgaren, Vlachen, Ukrainer, Tschechen und Italienern. Im Jahre 1945 und danach waren hunderttausende Deutsche, Magyaren, Türken und Italiener geflüchtet oder vertrieben worden.

Das am 1.12.1918 in Belgrad vom Prinzregenten Alexander Karadjordjević proklamierte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war im Sinne der vor und im Ersten Weltkrieg formulierten jugoslawischen Idee unter dem außenpolitischen Druck Italiens sowie unter der innenpolitischen Furcht des Bürgertums vor dem Bolschewismus entstanden. Als der schärfste Kritiker des bald etablierten großserbischen Zentralismus, der kroatische Bauernführer Stjepan Radić, im Juni 1928 im Belgrader Parlament tödlich verwundet wurde, versuchte König Alexander ab 1929 das nunmehrige „Königreich J.“ mit einer Königsdiktatur aus der Krise zu führen. Zwar gelang noch im August 1939 eine Vereinbarung („Sporazum“) zwischen den wesentlichen serbischen und kroatischen Politikern mit der Zusammenfassung der meisten kroatischen Siedlungsgebiete zu einem Banat, allein die kriegerischen Auseinandersetzungen der Großmächte um die Balkanhalbinsel rissen im April 1941 auch J. in den Strudel des Zweiten Weltkrieges. Deutschland, Italien, Bulgarien und Ungarn eroberten und zerteilten J. Neben den bald anlaufenden Widerstandsaktionen gegen die Okkupatoren und dem immer erfolgreicheren Partisanenkrieg entwickelten sich freilich auch um nichts weniger verlustreiche innerjugoslawische Bürgerkriege: v. a. seitens der kroatischen Ustaše gegen Serben und Juden; seitens der serbischen Četnici gegen Katholiken und Muslime in Bosnien; seitens der kommunistisch geführten Partisanen gegen Katholiken, Muslime und Četnici; seitens muslimischer Einheiten gegen Partisanen, Četnici und Katholiken; zwischen kommunistischen und bürgerlich-bäuerlichen Gruppen (Domobranci) in Slowenien. Da diese innerjugoslawischen Bürgerkriege mehr als die Hälfte der über eine Million Kriegstoten in J. verursachten, hinterließen die hunderttausenden Gräber tiefe mentale Gräben in so gut wie jeder Familie.

Das neue, vom langjährigen KP-Chef und Staatspräsidenten Marschall Josip Broz Tito diktatorisch geführte J. von 1945, die Föderative Volksrepublik J., unternahm in mehreren Verfassungsschritten eine Anerkennung der sechs Nationen J.s und der neun größeren Nationalitäten. Freilich konnten sich die Serben aus traditionellen Gründen wie aus Gründen der Konzentration in der Bundeshauptstadt Belgrad ein Übergewicht in der Armee, in der Polizei, in der Diplomatie und in anderen Zentralstellen bewahren. Das kommunistische Einparteiensystem versuchte ab 1950 die Einführung eines Selbstverwaltungssystems und einer „sozialistischen Marktwirtschaft“. Dieser Selbstverwaltungssozialismus geriet allerdings sowohl in die Interessenskonflikte zwischen den Arbeitnehmern und den Betriebsleitungen als auch zwischen den unterschiedlich entwickelten Republiken. Darüber hinaus entzweiten die unterschiedlichen Exporterlöse und Tourismuseinnahmen, wie auch die vermehrte Kreditaufnahme im westlichen Ausland die einzelnen Republiken, sodass seit dem ersten Ölpreisschock von einer wirtschaftlichen und finanziellen Dauerkrise gesprochen werden muss. Auch radikale Maßnahmen nach dem Tode Titos 1980 konnten die finanzielle Talfahrt und das wirtschaftliche Auseinanderdriften der Republik nicht mehr stoppen.

J. versuchte mit einer „blockfreien“ Außenpolitik einen dritten Weg zwischen Ost und West. Freilich ergab sich auch dabei eine zunehmende Diskrepanz zwischen den quantitativen und qualitativen Ressourcen J.s einerseits und seiner außenpolitischen Rolle andererseits. Immerhin verstand es Tito, J. im Wesentlichen aus dem Ost-West-Konflikt herauszuhalten. Die Bewegung der „blockfreien Staaten“ verlor allerdings mit abnehmender wirtschaftlicher Bedeutung auch an strategischem Gewicht, und Tito vernachlässigte zweifellos eine konstruktivere Politik der guten Nachbarschaft. Die äußere Sicherheit des blockfreien J. beruhte dabei hauptsächlich auf der Pattstellung zwischen NATO und Warschauer Pakt.

Der Zerfallsprozess J.s nach 1991, der zu mehreren Balkankriegen und zur Verselbständigung von Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien sowie zu deren Annäherung an das westliche Gesellschaftssystem führte, hinterließ seit April 1992 nur mehr eine „Bundesrepublik“ J., die im Jahre 2003 in „Serbien und Montenegro“ umbenannt wurde, aus der 2006 auch Montenegro austrat. Die wesentlichsten Ursachen des Zerfallsprozesses J.s liegen zweifellos im Versagen des von der Kommunistischen Partei gestalteten politischen Systems, im Niedergang der Sozial- und Wirtschaftsordnung des Selbstverwaltungssozialismus, im Scheitern der Lösungsansätze für die Nationalitätenprobleme des Vielvölkerstaates, in der zum Teil verfehlten Außen- und Sicherheitspolitik, nicht zuletzt aber auch im neuerlichen Aufbrechen der jahrhundertealten historischen und mentalen Trennlinien, verstärkt durch die negativen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg.

(II) Die einzelnen Teile des durchwegs künstlichen Staatsgebildes J. wiesen in musikalischer Hinsicht ebenso unterschiedliche Traditionen auf: der katholische (Kroatien [Nordkroatien, Dalmatien, Slawonien] und Slowenien) besaß seit dem Mittelalter engste Verbindungen zu der europäischen Entwicklung, der orthodoxe (Serbien, Montenegro, Makedonien) kannte bis zur 2. Hälfte des 19. Jh.s eine Kunstmusik in gleicher Bedeutung des Wortes kaum, und im islamischen, sowohl national wie religiös besonders stark durchmischten Teil (Bosnien-Herzegowina, Kosovo) fasste die europäische Musikkultur erst nach dem Ersten, z. T. sogar nach dem Zweiten Weltkrieg Fuß. Ziemlich selbstverständlich ist, dass dies nicht ohne Beeinträchtigung der traditionellen Musik(en) geschehen konnte. Immerhin bemerkenswert ist die offensichtlich geringe Beeinträchtigung der nationalen Identitäten bzw. deren starke Assimilationskraft: trotz des serbischen Zentralismus bzw. der kommunistischen Ideologie, die den Völkern nicht nur eine künstliche Staatssprache („Serbo-Kroatisch“) aufoktroyieren wollte, sondern überhaupt eine neue (einheitliche) Identität und damit Kultur zum Ziele hatte. Der Erfolg war letztlich gering. Trotz der Vereinheitlichungsbestrebungen auch auf musikalischem Gebiet (z. B. Gründung von SOKOJ [Savez kompozitora Jugoslavije/Komponistenvereinigung J.s], 1950; Jugoslavenska muzička tribina/Jugoslawische Musiktribüne, 1964) und trotz der gegenseitigen Kontakte zwischen den Teilrepubliken, allein aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsituationen hat sich deren Musikkultur keineswegs einheitlich entwickelt. Man kann daher von einer jugoslawischen Musikkultur nicht sprechen. Dies lassen nachträglich sogar die meisten zeitgenössischen Publikationen erkennen.

Nach den politischen Gegebenheiten durchaus verständlich ist, dass man in J. die Modelle nicht mehr in Österreich, sondern eher im übrigen Mitteleuropa bzw. Ausland (z. B. in Frankreich) suchte. Das ist nicht zuletzt daran abzulesen, wo die nächste Musikergeneration studierte: sehr viel eher in Prag als in Wien. Wurde überall die romantische Musik als eigentlicher Ansatzpunkt angesehen, kam es in den 1920/30er Jahren allenthalben (am wenigsten in Slowenien) zu Diskussionen über die einzuschlagende Richtung: eine nationale (v. a. an der Folklore orientierte; Nationalstil) oder internationale. Diese Frage blieb offen bzw. wurde politisch überholt: indem seit dem Bruch mit dem Sowjet-Regime (1948) ein toleranteres Kulturklima entstand und besonders seit den 1960er Jahren Komponisten, Interpreten und Ensembles J.s zunehmend Anschluss an die von Darmstadt/D ausgehende Avantgarde fanden (z. B. Gründung der internationalen Muzički biennale [Musikbiennale] Zagreb, 1961, zur Förderung zeitgenössischer Musik; Agram), d. i. also lange vor 1991. Dass die Verhältnisse im jüngsten J., das nur mehr zwei Staaten umfasst, wiederum anders gelagert sind und (2002) noch keinerlei Gemeinsamkeit erwarten lassen, versteht sich weitgehend von selbst.


Literatur
NGroveD 27 (2001); Muzička enciklopedija 3 Bde. 1971–77; Leks. Jugoslav. Muzike 1984; J. Andreis et al., Historijski razvoj muzičke kulture u Jugoslaviji [Geschichtliche Entwicklung der Musikkultur in J.] 1962; D. Cvetko, Musikgesch. der Südslawen 1975; R. Rudi in Glazbeno stvaralaštvo naroda i narodnosti Jugoslavije [Musikalisches Schaffen der Völker und Natioanlitäten J.s] 1979; E. Sedak in Arti musices 22/2 (1991); M. Kuntarić, Bibliografija rasprava i članaka: Muzika [Bibliographie der Artikel in Zss. in J. bis 1945] 2 Bde. 1984–86; L. Pruett (Hg.), RISM, Reihe C: Directory of Music Research Libraries 5 (1985).

Autor*innen
Arnold Suppan
Ivan Klemenčič
Rudolf Flotzinger
Letzte inhaltliche Änderung
21.5.2024
Empfohlene Zitierweise
Arnold Suppan/Ivan Klemenčič/Rudolf Flotzinger, Art. „Jugoslawien“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 21.5.2024, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00021be0
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DOI
10.1553/0x00021be0
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