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Kammersymphonie
Instrumentalwerk mit symphonischem Anspruch, solistischer Besetzung, flexibler Satzanzahl und zumeist geringer Dauer. Als innovative Gattung führt sie in Österreich zu Beginn des 20. Jh.s die symphonische Tradition mit neuen Mitteln fort. Wesensmerkmal ist die Synthese aus elaborierten kammermusikalischen Techniken und verstärkter Klangfarbendifferenzierung. Formal entwickelt sie sich aus der traditionellen Satzfolge der Symphonie, ohne diese vollständig erfüllen zu müssen: Sie kann alle Satzcharakteristiken innerhalb eines Teiles konzentrieren oder in getrennten Sätzen Formvarianten bilden. Anfangs hob sie sich durch ihre geringere Dimension gegenüber der traditionellen Symphonie des 19. Jh.s ab und durch extreme Individualität, die erhalten blieb.

Entstehungsgeschichtlich ist man geneigt, die Brüchigkeit der traditionellen Stilmittel sowie die Folgen des Ersten Weltkrieges für die Entwicklung der K. als Ursachen für die Entstehung abzutun. Die Untersuchung unterschiedlicher, alsK. benannter Werke zeigt hingegen einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess ohne Bruch mit den traditionellen Verfahrensweisen, abgesehen von der Tonalität.

Drei Komponisten schrieben zwischen 1901 und 1906 K.n Ermanno Wolf-Ferrari eine Sinfonia da Camera (erschienen 1903), E. Toch und A. Schönberg 1906 jeweils eine Komposition mit dem Titel K. Der notorische Trend, Werke nicht aus ihrer Entstehungszeit heraus, sondern aus dem später als avantgardistisch definierten Stil zu bewerten, führte zur Fixierung des Terminus K. auf Schönberg als Urheber dieser „neuen“ Gattung und verstellte den Blick auf Parallelentwicklungen und den wohl entscheidenden Aspekt: nämlich Monumentalismus. 1906 arbeitete G. Mahler gerade an seiner 8. Symphonie und Wiens musikalische Öffentlichkeit war nach 1900 an Monumentalismus gewöhnt. Das Phänomen der Verknappung beruht förmlich auf der Erkenntnis der jüngeren Zeitgenossen, den symphonischen Monumentalismus nicht mehr überbieten zu können. (Als Analogon in der Musikhistorie wäre die bekannte Entwicklung der Oper nach Rich. Wagner zu denken.) Dass sich diese Gattung hauptsächlich in Wien etabliert, resultiert aus dem vitalen Musikleben der Stadt und der Aufgeschlossenheit der geistigen Elite. Zwar scheinen einige Skandalkonzerte ihre Konservativität zu belegen, tatsächlich aber verblieben auch die Avantgardisten auf den Spielplänen Wiener Konzertsäle und bereicherten bis 1938 Wiens Stilpluralismus.

1906 erregte nicht nur Schönbergs K. Aufsehen, sondern auch jene des 19-jährigen Toch. Schönbergs K.en aus 1905/06 und 1906/39 – beide gleichzeitig konzipiert, aber letztlich in verschiedenen Lebenssituationen vollendet – zeugen von der Inhomogenität der neuen Gattung: Schönbergs Erste K. subsumiert fünf Formteile in einem Satz, seine Zweite K. besteht aus zwei voneinander unterscheidbaren Sätzen. Kommt die 1. K. mit 15 Instrumenten aus, so benötigt er für die 2. K. einen erheblich größeren Streicherapparat, da er nicht nur die hohen Streicher teilt, sondern den tiefen, v. a. den Violoncelli, zwei bis drei verschiedene Stimmen überträgt. Die Komplexität der Faktur erfordert für die Interpretation beider K.n hohes technisches Können. Da Schönberg stets die musikalische Idee über die Ausführbarkeit stellte, erschien ihm die solistische Besetzung der einzelnen Instrumentengruppen wohl unabdingbar. Dank Mahlers Engagement konnte die UA vom Ensemble Rosé und den Bläsern des Hofopernorchesters 1907 im Musikverein realisiert werden. Als sich in der Folge immer mehr Ausführende auf den Stil der Avantgarde spezialisierten, wurde die Problematik der optimalen Interpretation obsolet: Schönberg reagierte darauf mit der Bearbeitung von op. 9 für großes Orchester und mit der größeren Klangdimension der 2. K.

1913 gelangt eine der Gattung K. entsprechende Sinfonietta zur vielbeachteten UA, nämlich das Op. 5 des erst 15-jährigen E. W. Korngold, und 1916 das als K. betitelte einsätzige Orchesterwerk von F. Schreker. Anlässlich des 100-jährigen Gründungsjubiläums der k. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien erarbeitete Schreker seine K. für die Prof.en der Instrumentalklassen und Mitglieder der Wiener Philharmoniker, mithin für 7 Bläser, 11 Streicher, Harfe, Celesta, Harmonium, Klavier, Pauke und Schlagwerk. Dieses Werk steht F. Liszts Modell der in einem Satz kumulierten Viersätzigkeit nahe und in gewisser Weise auch der symphonischen Dichtung, da es Schreker in seinen Skizzen „Tondichtung“ nennt und plastische Stilmittel zum dramaturgischen Aufbau verwendet.

Zwar nicht K. benannt, aber der Disposition nach durchaus zur K. tendierend, sind A. Weberns Symphonie op. 21 und E. Kreneks Kleine Symphonie – beide aus 1928 – sowie A. v. Zemlinskys Sinfonietta aus 1934. Allen drei Werken eignen der Bezug zu traditionellen symphonischen Satzmodellen, die Anwendung subtiler Verarbeitungstechniken, klangliche Transparenz und Komprimierung der Dimension – gleichgültig, ob tonal-innovativ wie bei Krenek und Zemlinsky oder avantgardistisch wie bei Webern. 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, im Exil, komponierte auch H. Eisler seine K.

Die ideologische Sinnentfremdung der Terminologie während des NS-Regimes erfasste auch diese Gattung, so dass Komponisten nach 1945, diesmal aus ökonomischen Gründen, eine Reihe von kleineren Orchesterwerken in solistischer Besetzung veröffentlichten, die durchaus die Bedingungen der K. erfüllen. Der Terminus K. tritt in den späten 1980/90er Jahren vermehrt auf. Komponisten wie R. Bischof, P. Engel, M. Kreuz, H. Stuppner, W. Wagner u. a. befassten sich sehr individuell mit dieser Gattung. Dass sich die K. als Gattung im späten 20. Jh. völlig durchgesetzt hat, beweist ihre Persiflierung durch W. Pirchner: Er ordnet seine Soiree Tyrolienne der Gattung K. zu.

Die K. nur als Ausdrucksmittel der Avantgarde zu verstehen, widerspricht also der Quellenlage. Vielmehr bildet sie analog zur Symphonie die Rahmenbedingungen für alle erdenklichen Stile.


Literatur
G. W. Gruber (Hg.), Arnold Schönberg, Interpretation seiner Werke 2002; MGG 4 (1996); eigene Recherchen.

Autor*innen
Margareta Saary
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Margareta Saary, Art. „Kammersymphonie‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00027d2b
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


DOI
10.1553/0x00027d2b
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