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Kanon (Canon)
Regel oder Vorschrift zur Ausführung eines mehrstimmigen Satzes, dann auch dieser selbst. Als durchgängige Imitation einer führenden Stimme (Dux, Guida) durch die nachfolgende(n) (Comes, Conseguente) ist der K.die strengste polyphone Satztechnik bzw. Gattung. Seit dem 14. Jh. werden kanonische Satzarten in (auch sprachlichen) Anweisungen verschlüsselt, häufig in Form eines Rätsels.

Das früheste Beispiel in Österreich ist der dem Mönch v. Salzburg zugeschriebene Martins-K. (Nb. in MGÖ 1). Er gilt als erster deutschsprachiger dreistimmiger K. und ist in der Lambacher Liederhandschrift als „Radel“ (deutsches Äquivalent für Rota) überliefert. Von Oswald v. Wolkenstein sind vier (als „Fuga“ bezeichnete) Lied-K. bekannt, die Anfang des 15. Jh.s entstanden sein dürften (A-Iu B, 1432–38, Faks. bei Höpfel 1989).

Ein deutscher Cantus-firmus-K. ist L. Senfls (als „fuga trium vocum“ überschriebener) Satz Die prünle die da fliessen (in A-Wn 18810, Faks. in MGG 7 [1958]). J. Vaets Motette Qui operatus est Petro (Einblattdruck Wien 1560, A-Wn 47354, Maximilian II. gewidmet) ist ein Beispiel für einen sechsstimmigen K., dessen (kirchen-)politische Brisanz sich auch in der Notation offenbart: Petrus mit dem Schlüssel (Katholiken) steht dem Paulus mit dem Schwert (Protestanten) gegenüber (Faks. in DTÖ 103/104). Ein notationstechnisches Unikum stellt ein anonymer K. über das Lied Kein Adler in der Welt in A-Wn 19237 (16. Jh.) dar. Die sieben Stimmen werden mit sieben verschiedenen Farben voneinander abgehoben, um als Ganzes dennoch das Lied zu ergeben (Faks. und Übertragung bei Eybl 1993). Die Hofweise Kein Adler ist auch die Grundlage für den K. Tota pulchra es des Hofkapellmeisters P. Maessins, der mit dieser Komposition einen Fraktur- und Zirkel-K. in einem geschaffen hat. – Dass die hohe K.-Kunst der Niederländer auch im süddeutsch-österreichischen Raum nicht unbekannt war, beweist u. a. L. Pamingers vierstimmige „Fuga“ Te trinum et unum. Hier wird ein im Ergebnis einfaches Gebilde durch viele Mensur- und Proportionszeichen relativ kompliziert dargestellt, um die schwer zu fassende Symbolik der hl. Dreifaltigkeit auszudrücken.

In Salzburg erschien 1647 die Propriensammlung Ara musica des Domkapellmeisters A. Megerle, die mehrere (Rätsel-)K.s enthält. Ihre spirituelle Symbolik – auf der Ebene des Textes, der Satztechnik, der Notation und der Instrumentation – ist von den Jesuiten geprägt, möglicherweise von A. Kircher.

Ein Meisterstück des strengen Kontrapunkts stellt die Missa di San Carlo („Messa canonica“, K 7) von J. J. Fux dar. Im Widmungsschreiben an K. Karl VI. heißt es, dass „non esser affatto smarrita l’antica Musica e che a noi ne rimane qualche avvanzo, il quale coltivato dalla meditazione, e dallo studio può far comparire ancor vivente il gusto e la dignità della medesima.“ Das „Kyrie I“ beginnt gleich mit einem vierstimmigen Doppel-K. in der None, während die folgenden Sätze die Einsatzintervalle stufenweise vermindern (bis zum „Credo“ in der Terz).

Bei A. Caldara, der in Wien in den Jahren 1729/30 rund 700 K.s in einer erstaunlichen Formenvielfalt komponierte, rückt die gesellschaftliche Komponente der Gattung wieder in den Vordergrund.

Die Nobilitierung des Streichquartetts durch J. Haydn und W. A. Mozart basiert oft auf kanonischen (nicht nur imitatorischen) Stimmführungen. So enthält das Menuett des d-Moll-Streichquartetts KV 421 (417b) „eine kanonische Verknüpfung der beiden Oberstimmen in Tritonusparallelen und der beiden Unterstimmen in einer Quintreihe abwärts von a bis b“ (Gruber). Neben dieser Kunstfertigkeit – die ihren Höhepunkt im Requiem (v. a. im „Recordare“) erreicht – hat Mozart K.s geschrieben, die zusammen mit ihren Texten das Elementare dieser Gattung einzigartig verkörpern. Haydn wiederum komponierte für seine Englandreisen in den 1790er Jahren die Sammlung The Ten Commandments.

Dass L. v. Beethoven mit dem Quartett Mir ist so wunderbar (Fidelio) einen K. in eine Oper aufnahm, stellt gattungsgeschichtlich eher eine Ausnahme dar. Unter seinen (Scherz- und Rätsel-)K.s sei der dreistimmige B-a-c-h-K. „Kühl nicht lau“ (WoO 191, 1825) für den Komponisten Friedrich Kuhlau herausgegriffen.

Fr. Schuberts Beschäftigung mit dem K. setzte früh ein (er kopierte um 1810 K.s von M. Haydn u. a.) und wurde im Rahmen seiner Studien bei A. Salieri intensiviert. Sein letzter, Fragment gebliebener K. in C-Dur (D deest) ist insofern bemerkenswert, als die vier Stimmen (zu denen eine freie Bassstimme kommt) in der Unterquint einsetzen; als Vorbild werden die Rätsel-K.s in J. S. Bachs Musikalischem Opfer vermutet, die Schubert bei R. G. Kiesewetters Historischen Hauskonzerten kennen gelernt haben mag.

Im Schaffen von J. Brahms ermöglichen kanonische Satzprinzipien vielschichtige Anknüpfungen an für ihn maßgebliche Traditionen, z. T. biographisch vermittelt (und gebrochen) wie in den Schumann-Variationen op. 9. Kein Zufall ist, dass Brahms noch in seinem letzten Symphoniesatz (op. 98/IV) barocke Passacaglia und K. melancholisch-rückschauend miteinander konfrontiert. Der Komponist, der seit den 1850er Jahren anhand von älterer Vokalmusik K.-Studien betrieben hat, gab noch 1891 seine 13 K.s für Frauenstimmen (z. T. in überarbeiteten Fassungen) heraus.

Die Verbrüderungsszene im II. Finale der Fledermaus („Brüderlein“) liefert den vielleicht schönsten Beleg dafür, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s der K. längst zum musikalischen Topos der Geselligkeit geworden ist. (Die Idee einer solchen Vertonung stammte allerdings nicht von J. Strauß Sohn, sondern von R. Genée).

Für G. Mahler ist die Verwendung des K.s untypisch, doch zitiert er im 3. Satz der Ersten Symphonie die ins abgründige Bassregister gesetzte Melodie des Lieds „Bruder Jakob“ als Symbol für den unablässig in sich kreisenden Weltlauf; der schlichte K. wird zum Trauermarsch.

Für A. Schönbergs Ästhetik sind kontrapunktische und kanonische Satzformen zentral. In seinem Aufsatz Herz und Hirn in der Musik präsentiert er zwei (tonale) Spiegel-K.s, nicht zuletzt um sich als legitimer Nachfolger von Brahms zu erweisen. In Korrespondenz zur formalen und narrativen Struktur vertont Schönberg das Gedicht Der Mondfleck in Pierrot lunaire op. 21 als Doppel-K., der ab der Mitte gespiegelt wird (ein Verfahren, das u. a. Pierre Boulez beeinflussen sollte). Die ursächlichen Zusammenhänge zwischen kanonischem Denken und Zwölftonmusik finden ihren Niederschlag in der Suite für Klavier op. 25, in dessen Trio ein Zwölfton-K. ein Augenzwinkern mit der Tradition darstellt. Nach Th. W. Adornos Kritik „widersetzt sich in Wahrheit der Zwölftonkontrapunkt aller Imitatorik und Kanonik. Die Verwendung solcher Mittel […] wirkt als Überbestimmung, Tautologie.“ (Einer der zahlreichen Berührungspunkte zwischen Schönberg und J. M. Hauer ist, dass auch dieser mit K.-Techniken experimentierte und sogar ein Lehrbuch verfasste.)

Als kompositorisches Manifest des Schönberg-Kreises konzipierte Alban Berg sein (1925 anlässlich von Schönbergs 50. Geburtstag entstandenes) Kammerkonzert. Im ersten Satz sollen – wie eine Skizze (A-Wn F 21 Berg 74/II, fol. 2) verrät – strenge kanonische Bildungen „die andern (die nachfolgen, überholen wollen etc.)“, d. h. die übrigen Schönberg-Schüler symbolisieren. In seinem Violinkonzert (1935) verschränkt Berg K.- und Variationstechnik.

Eine besondere Rolle spielt der K. im Werk von A. Webern, was vielleicht nicht nur mit seinem (auch musikwissenschaftlichen) Interesse für die Niederländer zusammenhängt, sondern auch mit seiner Verwurzelung in volkstümlicher Musik. Bereits sein op. 2 (Entflieht auf leichten Kähnen nach Stefan George) ist ein (Doppel-)K. Im Titel wird die Gattung bei den Fünf K.s op. 16 genannt, doch bevorzugen auch die reifen Instrumentalwerke diese Satztechnik in einer Weise, die den Terminus „Mikrokanonik“ etwa für das Konzert op. 24 rechtfertigt. Über den Variationensatz seiner Symphonie op. 21 sagte Webern in seinen Vorlesungen: „Mehr Zusammenhang ist nicht möglich. Das haben auch die Niederländer nicht zusammengebracht. […] Der ganze Satz stellt also selbst einen Doppelkanon mit Rücklauf dar.“

E. Kreneks Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie Schönbergs im a-cappella-Chorwerk Lamentatio Jeremiae Prophetae op. 93 (1942) führt zu reihentechnischen Neuerungen wie Rotation und Transposition, wobei zwei- bis sechsstimmige K.s verwendet werden.

Vom kompositionstechnischen Stand der späten Werke Weberns ist es nur mehr ein Schritt zu G. Ligetis Atmosphères (1961), in denen die Satzart – durchaus einer Jh.e alten Tradition folgend – nicht hörbar, sondern allenfalls anhand der Partitur zu analysieren ist. Die Spiegel-K.s in seiner Anti-Anti-Oper Le Grand Macabre (1974–77) verstehen sich als spielerische Reflexion des musikhistorischen Archivs.


Literatur
MGG 7 (1958) u. 4 (1996); MGÖ 1–3 (1995); Riemann 1967 [Radel]; HmT 1999; F. V. Spechtler/M. Korth (Hg.), Der Mönch von Salzburg 1980; J. Höpfel, Innsbruck. Residenz der alten Musik 1989; M. Steinhardt in StMw 28 (1977); M. Eybl in StMw 42 (1993); K. Schnürl, 2000 Jahre europäische Musikschriften. Eine Einführung in die Notationskunde 2000; P. Tenhaef in MusAu 9 (1989); G. Ward in B. W. Pritchard (Hg.), Antonio Caldara. Essays on his life and times 1987; G. Croll in H. Hüschen (Hg.), [Fs.] K. G. Fellerer 1973; A. Dunning in MozartJb 1971/72; M. Ochs in R. Angermüller et al. (Hg.), [Kgr.-Ber.] Mozart Salzburg 1991, 1992 (MozartJb 1991), Teilbd. 1; M. Staehelin in H. Leuchtmann/R. Münster (Hg.), [Fs.] K. Dorfmüller 1984; R. N. Freeman in S. Gmeinwieser et al. (Hg.), Musicologia humana: Studies in Honor of Warren and Ursula Kirkendale 1994; SchubertL 1997; W. Dürr/A. Krause (Hg.), Schubert Hb. 1997, 64; J. Wetschky, Die K.technik in der Instrumentalmusik von J. Brahms 1967; I. Bredenbach in MuK 58 (1988); A. Schönberg, Herz u. Hirn in der Musik in I. Vojtĕch (Hg.), Stil und Gedanke 1976; Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik 1978; C. Floros, Alban Berg. Musik als Autobiographie 1992; A. Webern, Der Weg zur neuen Musik, hg. v. W. Reich 1960; F. Döhl, Webern. Weberns Beitrag zur Stilwende der Neuen Musik 1976; G. Haußwald in MuK 28 (1958); F. Jöde (Hg.), Der K. Ein Singbuch für alle 1937.

Autor*innen
Alexander Rausch
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Alexander Rausch, Art. „Kanon (Canon)‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d3b3
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