Kinderlied
Das
K. gehört im deutschsprachigen Raum zu den wenigen
Volksliedgattungen, die auch in Hinblick auf ihre Melodik als zusammengehörig fassbar werden. Gemeint sind jene musikalischen Frühformen, die von den Kindern selbst tradiert und improvisiert werden, und nicht die für Kinder komponierten Lieder. Viele Autoren rechnen auch die
„Wiegenlieder“ zur Liedgattung
K., was zwar vom Kontext her nahe liegt, typologisch aber nicht gerechtfertigt ist. Musikalisch steht im Kern der
K.er der „
K.-Terno“' (d’’-e’’-h’), den Lajos Bárdos als
„infrapentatonische Tonreihe“ beschrieben hat. Das wird damit begründet, dass viele
K.er in ihren Texten vorchristliche Anschauungen widerspiegeln, was ihre Entstehung in vorchristlicher Zeit nahe legt, weshalb es nach den Erkenntnissen der Musikforschung nicht zutreffend ist, die dazugehörige Melodik als Dur zu deuten. Ausgangspunkt des
K.-Ternos ist die Rufterz, die Bewegung zwischen dem Rufton d’’ und der Ruhelage h’, als
„ontogenetische Urform der Melodik“ (Werner). Sie wird in vielen
K.ern erweitert durch die obere Nebennote zum Rufton, auch durch Durchgangstöne, durch die Quint unter dem Rufton und die Quart über dem Rufton.
Inhalte der K.er sind Kosespiele, Schaukel- und Kitzelreime, Nachahme- und Deutereime, Zauberformeln, Heilsegen, Bastlösereime, Auszählreime, Neckreime, Zuchtreime, Scherzreime, Brauchreime, Spiellieder u. v. a. Die mythologische Schule der Volkskunde, die aus der deutschen Volksüberlieferung die Mythologie der Westgermanen zu rekonstruieren trachtete, fand in vielen Kinderreimen das Weiterleben älterer mythologischer Vorstellungen, wenn z. B. von „drei Frauen“ die Rede ist, die als Schicksalsgöttinnen zu deuten seien. Hier wurden viele vorschnelle Schlüsse gezogen, die nicht haltbar sind, doch sind ältere Relikte in Kinderreimen zweifellos vorhanden. Sie betreffen nicht allein Mythen, sondern auch Rechtsvorstellungen. Nicht zu unterschätzen ist in den Kinderreimen die Auseinandersetzung mit Geschlechtlichem.
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25.4.2003
Gerlinde Haid,
Art. „Kinderlied“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
25.4.2003, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d44c
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