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Kirchenmusik, griechisch-orthodoxe
Das byzantinische Reich (330–1453) verstand sich stets als christliche Ökumene, deren spirituelle Grundlage die orthodoxe Kirche darstellte. Als einer der wichtigsten Grundpfeiler des Reiches diente die Kirche v. a. auch als verbindendes Element, unabhängig von geographischen Grenzen und Nationalitäten. Die gemeinsamen Anfänge sowohl des lateinischen Westens als auch des griechischen Ostens liegen für die Kirchenmusik in Palästina, von wo unterschiedliche Traditionen ihren Ausgang nahmen. Die byzantinische Kirche stand den Einflüssen aus dem Osten, wie Syrien und Palästina, näher als die römische, was wiederum zu einem Teil die unterschiedliche Ausformung des Ritus und die damit verbundene Entwicklung der sakralen Gesänge (Byzantinische Musik) selbst bedingte.

Im 9./10. Jh. kam es im Westen wie im Osten ungefähr zur gleichen Zeit unabhängig voneinander zur Ausformung einer einfachen Notationsschrift (Neumen), mit deren Hilfe vorerst v. a. die Chorgesänge der Hochfeste aufgezeichnet wurden; das übrige Repertoire blieb auch weiterhin der oralen Tradition vorbehalten. Während es im Westen zur Einführung eines Liniensystems kam, formte sich im Osten hingegen aus der ursprünglichen adiastematischen eine diastematische Notation ohne Fixierung auf eine bestimmte Tonhöhe aus, also als reine Intervallschrift.

Musikinstrumente fanden in der orthodoxen Kirche aus theologischen Überlegungen heraus keine Verwendung; allein die menschliche Stimme wurde für würdig erachtet, Gott zu loben, ein Aspekt, der nach wie vor in der griechisch-orthodoxen Kirche seine Gültigkeit hat. Weiters hält im Gegensatz zur lateinischen die griechisch-orthodoxe Kirche bis heute an der Einstimmigkeit fest; dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass es im Laufe der Jh.e zu einer immer stärkeren Ornamentierung der Melodien kam. Die weitere Entwicklung der byzantinischen Kirchenmusik sah so aus, dass es bereits relativ früh zu einer Ausformung zweier unterschiedlicher Traditionen kam, die sowohl in der Liturgie als auch in der Musik ihren Ausdruck fanden: einerseits die Tradition der Klöster und andererseits die der Patriarchatskirche von Konstantinopel (Istanbul), der Hagia Sophia, die stark von einem imperialen Ritus geprägt war. Ging die Ausformung eines monastischen Ritus zu Beginn v. a. von Palästina (Sabas-Kloster) aus, wurde Ende des 8. Jh.s unter dem Einfluss palästinensischer Mönche das Studiu-Kloster in Konstantinopel maßgebend für die liturgisch-musikalische Entwicklung, und schließlich gewannen ab der 2. Hälfte des 10. Jh.s die Klöster am Berg Athos an Bedeutung. Parallel dazu formte sich ein weltlicher Ritus aus, der mit dem Bau der Patriarchatskirche Hagia Sophia unter Kaiser Justinian in Konstantinopel, um die Mitte des 6. Jh.s, seinen Ausgang nahm.

Es waren in der weiteren Folge auch historische Ereignisse, die auf die Entwicklung der Kirchenmusik einwirkten, wie beispielsweise die Eroberung Konstantinopels durch die Lateiner (1204), als es zur zeitweisen Vertreibung des Kaisers und des Patriarchen kam, und v. a. der Fall Konstantinopels (1453) an die Osmanen, mit dem das byzantinische Reich aufhörte zu existieren. Unter der nun folgenden fast vier Jh.e dauernden Osmanenherrschaft kam der Kirche eine identitätsstiftende Rolle zu. Daraus lässt sich auch das Festhalten an den überlieferten Traditionen erklären, die eine stabilisierende Wirkung besaßen. Nach einem Jh. der Stagnation, währenddessen liturgische Musik v. a. kopiert wurde, kam es erst wieder ab der 2. Hälfte des 16. Jh.s zu einem Aufleben der musikalischen Neuschöpfungen, was im 17. und 18. Jh. dann zu einer neuen Blüte der Kirchenmusik führte.

Der nächste entscheidende Schritt fand zwischen 1814 und 1821 mit der sog. Kirchenmusikreform durch die drei Lehrer Chrysanthos von Madyta, Churmuzios Chartophylax und Gregorios Protopsaltes statt. Dies fällt zeitlich ungefähr mit dem Unabhängigkeitskampf der Griechen (Griechenland) gegen die Osmanen zusammen. Es kam zu einer Reform und v. a. Vereinfachung der Notation; die theoretische Basis der Kirchenmusik wurde mit Hilfe der griechisch-antiken Musiktheorie neu formuliert. Die Kirchentöne wurden nun durch genau fixierte Skalen ersetzt und die einzelnen Melodien in ein rhythmisches System gebracht.

Durch diese Reform der g.-o. K. und die damit verbundene Umschreibung der alten Melodien in das neue System, war die Notation der byzantinischen Musik im Laufe des 19. Jh.s allerdings in Vergessenheit geraten. Es gelang dem Musikwissenschaftler Oskar Fleischer 1904 aufgrund der kurzen Einführungen in die byzantinische Musiktheorie, die in spätbyzantinischen Gesangbüchern überliefert sind, erstmals die Notenzeichen in ihrem Intervallwert zu entschlüsseln. Damit war es möglich geworden, ein Melodiegerüst zu erstellen. Die dynamische und rhythmische Bedeutung der Notenschrift war jedoch noch völlig unklar. An diesem Punkt setzte auch die Forschung des Wiener Musikwissenschaftlers und Komponisten E. Wellesz ein, der über das Studium der Gregorianik (Choral) zur byzantinischen Kirchenmusik gelangt war. Ab 1915 griff er auf von Jean-Baptiste Thibaut edierte musiktheoretische Traktate zurück, um die byzantinischen Neumen zu interpretieren. Was die Rhythmik der Notation betrifft, versuchte Wellesz, diese aufgrund der Theoretiker zu interpretieren. Unabhängig davon kam der englische Gräzist und Musikwissenschaftler Henry J. W. Tillyard zu den gleichen Forschungsergebnissen wie Wellesz. 1931 begründeten Tillyard, Wellesz und Carsten Høeg die Schriftenreihe Monumenta Musicae Byzantinae. Ihr Ziel war es, die wichtigsten musikliturgischen Bücher der Byzantiner in Faksimileausgaben der Fachwelt zugänglich zu machen. Es wurde ein Übertragungssystem festgelegt, das auf die Forschungen von Wellesz zurückgeht.

Allerdings gab es im 19. Jh. auch immer wieder Versuche, g.-o. K. vierstimmig zu setzen. Nach Wien waren bereits während der Türkenherrschaft viele Griechen ausgewandert. Im 18. Jh. bildete sich, sowohl was die wirtschaftliche als auch die daraus hervorgehende kulturelle Entwicklung betrifft, eine blühende griechische Gemeinde. Deren Zentren in religiöser, aber auch gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht waren die beiden orthodoxen Kirchen zum Hl. Georg am Hafnersteig (für die Griechen osmanischer Staatsbürgerschaft) und zur Hl. Dreifaltigkeit am Fleischmarkt (für die Griechen, die k.u.k. Untertanen waren). Bereits 1808 gab es das Bestreben, die byzantinischen liturgischen Gesänge vierstimmig zu setzen. Einen ersten Versuch unternahm der Leiter der griechischen Schule in Wien, Emmanouil Kapetanakis, zusammen mit dem aus Chios stammenden Musiklehrer und Priester der Georgskirche, Agapios Paliermos (Αγάπιος Παλιέρμος, † 1815 Bukarest). Seine konservativen Landsleute verhinderten jedoch, dass die vierstimmigen Gesänge in der Liturgie gesungen wurden.

Eine Generation später, in den 1840er Jahren, wurde dieses Vorhaben von der Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche erneut aufgegriffen: 1842 entwickelte erstmals der Protopsaltis der orthodoxen Kirche zum Hl. Georg, Anthimos Nikolaïdis, zuerst in Zusammenarbeit mit dem Musiklehrer A. Swoboda und dann auch unter Hinzuziehung des österreichischen Dirigenten und Komponisten G. Preyer ein System tetraphonischer Musik. Allerdings sollte sich erst die Fassung von Ioannis Ch. N. Chaviaras (dem Protopsaltis der Kirche zur Hl. Dreifaltigkeit), die er 1844 zusammen mit B. Randhartinger erarbeitet hatte, durchsetzen und auch in anderen orthodoxen Gemeinden Europas übernommen wurde. Diese Bearbeitungen wurden am Ostersonntag und zu Pfingsten 1844 von einem 24-köpfigen Chor erstmals in der Kirche zur Hl. Dreifaltigkeit in Wien gesungen. Chaviaras’ und Randhartingers Werk erschien auch in einer mehrbändigen „Anthologie“ (Gesänge der Hl. Liturgie mit Beibehaltung der von J. Ch. N. Chaviara angegebenen Original-Melodien für vier Singstimmen mit willkürlicher Begleitung des Klaviers) in Wien (Serbien, C. Stanković).


Literatur
E. Bernhauer, Gottfried von Preyer, Diss. Wien 1951; D. E. Conomos, Byzantine Hymnography and Byzantine Chant 1984; S. Efstratiadis, Ο εν Βιέννη Ναός του Αγ. Γεωργίου και η Κοινότης των Οθωμανικών Υπηκόων [Die Kirche zum Hl. Georg in Wien und die Gemeinde der Osmanischen Untertanen] 1997; F. J. Fetis, Biographie universelle des Musiciens 8 (1865); C. Floros, Universale Neumenkunde 3 (1970); P. E. Formozis in Stachys 8/9 (1967); E. Jammers, Musik in Byzanz, im päpstlichen Rom und im Frankenreich 1962; K. Romanou, Εθνικής Μουσικής Περιήγησις 1901–1912. Ελληνικά Μουσικά Περιοδικά ως Πηγή Έρευνας της Ιστορίας της Νεοελληνικής Μουσικής [Die Reise der Nationalmusik 1901–1912. Griechische Musikzeitss. als Forschungsquelle zur Geschichte der Neugriechischen Musik] 1–2 (1996); E. Wellesz, A History of Byzantine Music and Hymnography 1961.

Autor*innen
Nina-Maria Jaklitsch
Letzte inhaltliche Änderung
25.4.2003
Empfohlene Zitierweise
Nina-Maria Jaklitsch, Art. „Kirchenmusik, griechisch-orthodoxe“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 25.4.2003, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d452
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