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Leitmeritz (deutsch für tschechisch Litoměřice)
Das nordböhmische Territorium, auf dem 1235 die Stadt L. gegründet wurde, gehörte bereits im 10. Jh. zur Herrschaft der Přemysliden. Hzg. Spytihněv hat hier ca. 1057 die St. Stephans-Kirche errichten lassen und ein Stift gegründet. Getreidehandel, Wein- und Ostbau ermöglichten eine schnelle Entwicklung der neu gegründeten Stadt. Drei Orden bestimmten ihren religiösen Charakter: 1233 ließen sich hier die Minoriten nieder (St. Jakobs-Kirche), 1236 die Dominikaner (St. Michaels-Kirche) und schließlich 1257 die Kreuzherren mit dem roten Stern (Marienkirche), die auch ein Spital gründeten. Die hussitische Bewegung im 15. Jh. änderte die konfessionelle Einstellung der Bevölkerung, deren Mehrheit sich nunmehr zu den Utraquisten bekannte; in L. war eine der ersten Literatenbruderschaften tätig. Zu den ältesten liturgischen Denkmälern gehören das L.er Graduale (1517) und das L.er Kanzionale (1543). Die spätere Zeit brachte Repressalien gegenüber den Juden mit sich, das L.er jüdische Viertel wurde 1541 geplündert und 1546, nachdem die Stadt königliche Privilegien erhalten hatte, wurde den Juden der Aufenthalt in der Stadt untersagt (sie sind nach 1848 allmählich zurückgekehrt).

Um die Wende zum 17. Jh. war die Mehrheit der L.er Bevölkerung protestantisch und stand auf Seite der antihabsburgischen Opposition. Nach deren Niederlage 1620 und im Prozess der Gegenreformation gewannen die Jesuiten an Bedeutung. Nach der Gründung des Bistums L. durch Papst Alexander VII. 1655 (der erste Bischof war Maximilian Rudolf v. Schleinitz) setzte in der Stadt eine rege Bautätigkeit ein, an der vor allem italienische Künstler beteiligt waren. Anstatt der alten St. Stephans-Kirche wurde der neue Stephansdom erbaut (Domenico Orsi de Orsini), weiters die bischöfliche Residenz (Giulio Broggio), das Jesuitenkolleg mit der Kirche Mariä Verkündigung (Giulio und Octavio Broglio) und die St. Wenzels-Kirche (O. Broglio). Am 1660 errichteten Jesuiten-Gymnasium studierte der aus L. gebürtige Komponist Wenzel Praupner (1745–1807), der spätere Regens Chori an mehreren Prager Kirchen. Aus L. stammte auch sein Bruder, der Violinist Johann Joseph Praupner (1751–1818).

L. litt im 18. Jh. unter den preussisch-österreichischen Konflikten; 1780 wurde in der Nähe der Stadt als militärstrategischer Punkt die Festung Theresienstadt (Terezín/CZ) errichtet; sie belastet seit ihrer Umwandlung in ein Konzentrationslager im Nationalsozialismus noch heute das Image der Stadt. Veränderungen brachten auch das Verbot des Jesuitenordens und weitere Reformen Josephs II.

Das zunächst proportional nahezu ausgeglichene Verhältnis zwischen der tschechisch- und der deutschsprachigen Bevölkerung änderte sich während des 19. Jh.s zugunsten der Tschechen. Am L.er Gymnasium wirkte 1800–15 der Sprachwissenschaftler Josef Jungmann, der hier (erstmals an einer böhmischen Schule) die tschechische Sprache unterrichtete. Nach 1848 begann, wie im ganzen Land, die sprachliche (nationale) Trennung. Es gab mehrere deutsche Vereine, während die L.er Tschechen ihre eigenen nationalen Feste (z. B. auf dem Berg Říp [Sankt Georgsberg]) veranstalteten. Die Konkurrenz zwischen beiden Sprachgruppen hatte zuerst positive Auswirkungen, wie z. B. auf die Tätigkeit des im Jahre 1858 gegründeten L.er Gesang- und Musikvereins (1858) und der 1862 gegründeten tschechischen Měšťanská beseda (Bürgerverein), die auch kooperierten. Zu Ende des 19. Jh.s wurde diese Konkurrenz zu einem Instrument der Politik und die tschechisch-deutschen Beziehungen verschlechterten sich entschieden.

Am Musikleben der Zwischenkriegszeit hatte die 1929 gegründete Deutsche Brucknergemeinde in L. (als Zweigstelle der Internationalen Bruckner-Gesellschaft in Wien) großen Anteil. Ihre bestimmende Kraft war der an der kirchenmusikalischen Abteilung der Wiener MAkad. ausgebildete Franz Zeman (1894–1969), L.er Domkapellmeister, Chormeister des Gesang- und Musikvereins L. und Stadtmusikdirektor. Zeman kam 1926 nach L. und führte mit dem Domchor bereits nach kurzer Zeit einige Werke A. Bruckners auf. 1932 organisierte die Brucknergemeinde vom 25. bis 27.4. ein Festival, bei dem Werke J. S. Bachs und A. Bruckners aufgeführt wurden. Sie veranstaltete bis 1941, als sie aufgelöst wurde, regelmäßig Konzerte, bei denen als Solisten vor allem Professoren und Studenten der Deutschen MAkad. in Prag, aber auch Gäste aus Deutschland u. a. auftraten. Die Brucknergemeinde war nach 1936 stark von der nationalsozialistischen Ideologie geprägt. Das zweite, von 22.10. bis 22.11.1936 gemeinsam mit dem GesangvereinAussig 1848 veranstaltete Festival trug bereits den Namen Sudetendeutsche Bruckner-Festtage; der einleitende Vortrag des deutschnationalen Schriftstellers M. v. Millenkovich-Morold behandelte das Thema Die Persönlichkeit Bruckners und seine Beziehungen zum Sudetendeutschtum.

Die ersten Belege zum Theaterbetrieb in L. stammen aus der Mitte des 16. Jh.s und sind mit Jesuitendramen verbunden. Das Jesuitenkolleg besaß einen eigenen Theatersaal, der nach der Aufhebung des Ordens kurze Zeit von der Theatergesellschaft des Vinzenz Karl Antong (1757–1829) bespielt wurde. Dieser ging, nachdem sein Bemühen, in L. ein ständiges Theater zu gründen, fehlgeschlagen war, nach Wien, wo er u. a. bei E. Schikaneder am Theater an der Wien sowie am Theater in der Leopoldstadt engagiert war. 1822 wurde das L.er Theatergebäude im klassizistischen Stil gebaut (Architekt Josef Gaube) und bereits am 18.12. desselben Jahres eröffnet; in den folgenden Jahren erfolgten dann noch einige bauliche Verbesserungen.

L. war in Nordböhmen eine willkommene Station für mehrere Wandergesellschaften, die meistens auch im benachbarten Theresienstadt auftraten. Einer der erfolgreichsten Theaterdirektoren, die in L. regelmäßig eine Saison bestritten, war der aus Traunkirchen/ÖÖ stammende Johann Nepomuk Feichtinger (1812–72). Nach einem ersten, allerdings gescheiterten Versuch, sich in L. zu etablieren, wechselte er zu mehreren Bühnen und versuchte 1855 noch einmal, in L. Fuß zu fassen. Nach seinem Tod übernahmen die Leitung der Gesellschaft seine Söhne Theodor (1838–1915) und Julius (1840–78), später die Witwe des Letztgenannten, Henriette. Das Repertoire von Feichtingers Gesellschaft umfasste Schauspiele, Possen mit Gesang, Singspiele, aber auch Operetten (von J. Offenbach, F. v. Suppè, später Charles Lecocq, J. Strauß Sohn, R. Genée) und Opern (z. B. von Adolphe Adam, C. Kreutzer und F. v. Flotow). Th. Feichtinger verabschiedete sich 1882 vom Theater und wurde Militärkapellmeister im IR Nr. 92 in Theresienstadt. Die Gesellschaft leiteten dann Henriette Feichtinger und ihr Bruder Karl Pohl, die Zahl der Opernvorstellungen ist unter ihnen deutlich gestiegen. Es gastierten in L. aber auch andere Gesellschaften, z. B. 1880 die Operngesellschaft Carl Sticks, die (unter der Mitwirkung der Kapelle des IR.s Nr. 73) u. a. W. A. Mozarts Hochzeit des Figaro, Die Zauberflöte und Don Juan, G. Meyerbeers Die Hugenotten und Robert der Teufel aufführte. An den Operetten- und Opernvorstellungen war stets eine Kapelle der Theresienstädter Garnison beteiligt. So spielten am L.er Theater noch in den 1880er Jahren die Kapellen der IR.er Nr. 42, Nr. 36 und Nr. 74.

Die Versuche am Anfang des 20. Jh.s, ein moderneres Theatergebäude zu bauen, wurden durch den Ersten Weltkrieg verhindert und auch spätere ähnliche Pläne sind gescheitert; statt dessen wurde das alte Gebäude renoviert und 1929 ein neuer Anbau hinzugefügt. Einen Konkurrenten erhielt diese deutsche Bühne in einem tschechischen Ensemble, das in dem 1932 neu gebauten Národní dům (Nationalhaus) spielte. Das deutsche Theater wurde 1945 bei einem Luftangriff beschädigt und 1949 wieder (unter dem bis heute verwendeten Namen Karel Hynek Mácha-Theater) in Betrieb genommen. 1969 musste es aus Sicherheitsgründen geschlossen werden; das Gebäude wurde erst 1989 umgebaut und am 18.12.1991 wieder eröffnet.

Aus L. stammen mehrere bedeutende Persönlichkeiten des Musiklebens, z. B. der Musikwissenschaftler und Musik- und Theaterkritiker Kurt Honolka (1913–88) und die Komponisten bzw. Pianisten J. Sardi, A. Profes und R. Buchbinder.


Literatur
H. Ankert in Veröff. der L.er heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft 1922; A. Javorin, Divadla a divadelní sály v českých krajích [Theater und Theatersäle in Böhmen] 1949; K. M. Komma in W. Brosche et al., L. und das Böhmische Mittelgebirge 1970; Slovník české hudební kultury [Lex. der tschechischen Musikkultur] 1997; O. Doskočil, Z dějin litoměřického divadla a divadelnictví [Aus der Gesch. des Theaters und des Theaterwesens in L.] 2002; O. Doskočil in J. Rak/M. Veselý (Hgg.), Armáda a společnost v českých zemích v 19. a první polovině 20. století [Militär und Gesellschaft in Böhmen im 19. und der 1. H. des 20. Jh.s] 2004; J. Bajgarová in Hudební věda 41 (2004); J. Hilmera in E. Šormová/M. Kuklová (Hgg.), Miscellanea theatralia. Sborník Adolfu Scherlovi k osmdesátinám [Sammelbd. zum 80. Geburtstag Adolf Scherls] 2005; J. Hilmera in J. Bajgarová (Hg.), Vojenská hudba v kultuře a historii českých zemí 2007; J. Bajgarová in H. Loos (Hg.), Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen. Traditionen städtischer Musikgesch. in Mittel- und Osteuropa 1 (2011); Městské divadlo K. H. Máchy Litoměřice [Das städtische K. H. Mácha-Theater in L.] (www.theatre-architecture.eu, 5/2015).

Autor*innen
Vlasta Reittererová
Letzte inhaltliche Änderung
8.6.2015
Empfohlene Zitierweise
Vlasta Reittererová, Art. „Leitmeritz (deutsch für tschechisch Litoměřice)‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 8.6.2015, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00325e3f
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10.1553/0x00325e3f
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