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Liturgie
In den Westkirchen seit dem 16. Jh., besonders aber seit dem 2. Vatikanischen Konzil der Oberbegriff für alle Weisen und Formen, bei denen sich christliche Gemeinden bzw. Kirchen sowie Juden zum Gottesdienst versammeln. Das griechische Wort (zusammengesetzt aus leiton = volks- und ergon = Werk) bedeutet ursprünglich Dienst am Volk im Sinne einer „Amtshandlung“ bzw. einer öffentlichen Dienstleistung. In dieser Weise ist auch der deutsche Oberbegriff Gottesdienst doppeldeutig zu verstehen. Zuerst handelt es sich um einen Dienst Gottes am Menschen, um Gottes Zuwendung in der Verkündigung der Heilsbotschaft durch Verlesung und Auslegung der biblischen Schriften sowie in besonderen rituellen Symbolhandlungen, dann erst um die Hinwendung des Menschen zu Gott in Verehrung, Anbetung, Fürbitte, Lobpreis und Opferhandlungen. Das Opfer gehört religionsgeschichtlich wesentlich in den Bereich des Kults, der mit seinen Riten und Regeln als Dienst an einer Gottheit verstanden wird, welchen die Menschen schuldig sind und nötig haben, um göttliches Wohlgefallen zu erlangen. Im christlichen Sinn ist diese Kultidee obsolet geworden. Christlicher Kult ist erinnernde Vergegenwärtigung (Anamnese) und sakramentales Wirksamwerden des Heilswirkens Christi für die Menschen zu allen Zeiten und Orten als Tun der Kirche im Stiftungsauftrag Jesu, welcher ein doppelter ist: das „Brotbrechen“, die gemeinsame Mahlfeier, bei der Brot und Wein als Leib und Blut Christi gereicht werden (Eucharistiefeier, Messe, Abendmahl, Göttliche L.), sowie das „immerwährende Gebet“, das Gestalt angenommen hat im Stundengebet der Kirche (Offizium, „Brevier“, Tagzeitenliturgie, Horen). Zur L. gehören darüber hinaus die Feier der Sakramente und der Sakramentalien, Wortgottesdienste, Segensfeiern, Andachten und andere volksfromme Feiern im Rahmen kirchlicher Verantwortung. L. ist immer ein dialogisches Geschehen mit einer katabatischen (Gott spricht zum Menschen) und einer anabatischen (der Mensch antwortet im Gebet) Dimension, sie ist „Gipfel und Quelle“ alles kirchlichen Tuns und ein zentraler Selbstvollzug der Kirche. Träger der L. ist nach heutigem Verständnis die gesamte Gemeinde, Kleriker wie Laien, die je eigene Dienste und Funktionen wahrnehmen, L. ist das Tun aller, die dazu versammelt sind. Die „tätige Teilnahme“ (actuosa participatio) ist Recht und Pflicht aller Getauften. In der L. wird zu allen Zeiten in Verkündigung, Gedächtnis und sakramentalem Vollzug das göttliche Heilswirken immer wieder neu gefeiert und erfahrbar gemacht. Die breite thematische Entfaltung erfolgt in der Feier des Kirchenjahres. Dieses hat als Höhepunkt die Dreitagefeier (triduum sacrum) vom Leiden und Sterben, dem Hinabstieg in das Totenreich und der Auferstehung des Herrn, die am Vorabend des Karfreitags mit der Messe vom letzten Abendmahl beginnt und am Ostersonntag endet. Dem Triduum geht die österliche Bußzeit (40tägige Fastenzeit) voran und folgt die 50tägige Osterfeier bis zum Pfingstfest. Der Weihnachtsfestkreis vom 1. Advent bis zum Fest der Taufe Jesu nach Epiphanie (Dreikönig) ist die zweite geprägte Zeit, die verbleibenden 33 oder 34 Wochen vervollständigen das „liturgische Jahr“. Eingefügt in diese Feier des Herrenjahres (Temporale) wird die Feier der Heiligen (Sanktorale).

Hinsichtlich der konkreten lehrmäßigen Ausdeutung gottesdienstlichen Handelns herrscht unter den christlichen Kirchen kein Konsens, die unterschiedlichen dogmatischen Standpunkte v. a. über die Eucharistie gelten als kirchentrennend, wenngleich L. als Ganzes wesentlicher Ansatzpunkt für ökumenische Praxis ist, weil die Dimensionen des Hörens auf Gottes Wort und der Antwort im Gebet allen Kirchen grundsätzlich gemeinsam sind.

Aus dem einen Stiftungsauftrag Jesu haben sich L.n im 1. Jahrtausend grundsätzlich regional entwickelt, das Gemeinsame findet konkrete Gestalt in den kulturell bedingten unterschiedlichen Ausformungen. Waren es im Osten Zentren wie Jerusalem, Antiochien, Alexandrien und Konstantinopel, sind im Westen regionale L.n aus Rom, Süditalien (Benevent), Norditalien (Mailand, Ravenna, Aquileia), Gallien, Spanien (mozarabisch) und Irland (keltisch) überliefert. Sie wurden unter Karl d. Gr. durch den einheitlichen römisch-fränkischen Ritus (Ausnahme Mailand) verdrängt. Dieser kannte jedoch immer seine regionalen Besonderheiten in den großen Diözesen (z. B. Salzburg, Passau), welche meist mit der Übernahme des Missale Pius’ V. („tridentinisches“ Messbuch, hervorgegangen aus dem Missale der römischen Kurie) ab 1570 (Salzburg 1596, Passau 1608) verschwanden, teils aber bis ins 19. Jh. erhalten blieben (Köln/D, Trier/D, Münster/D). Alte Ordensgemeinschaften wie Benediktiner, Zisterzienser, Kartäuser, Franziskaner, Dominikaner, Prämonstratenser, Augustiner-Chorherren, Karmeliten hatten grundsätzlich ihre eigenen L.n, die teils 1570 im römischen Ritus aufgingen, teils erst mit der L.-Reform des 2. Vaticanums aufgegeben wurden, aber auch weiterbestehen können wie bei den Kartäusern. Das Recht, die L. zu ordnen, hatte gewohnheitsmäßig der Metropolit bzw. der Ortsbischof oder der höhere Ordensobere. War schon 1570 der römische Druck zur Zentralisierung der L. unter päpstlicher Hoheit groß, wurde im Codex Iuris Canonici 1917 endgültig das Recht zur Regelung der L., v. a. ihrer Texte, dem Papst vorbehalten. Seither verstand man unter L. alles, was in römischen Büchern steht. Gottesdienstliche Feiern unter bischöflicher Ordnung wie Andachten, Prozessionen und Wallfahrten wurden als „Paraliturgie“ oder als „pia exercitia“ bezeichnet, diese Termini sind durch die Entwicklung nach dem 2. Vaticanum überholt und für mittelalterliche sowie heutige Verhältnisse sachfremd. Die L.-Konstitution und ihre nachkonziliare Umsetzung in der jüngsten L.-Reform ermöglichte wiederum größere liturgische Vielfalt und zunächst auch mehr bischöfliche Gestaltungsrechte, welche aber seit den letzten Jahren zugunsten der römischen Zentralgewalt zunehmend eingeschränkt werden.

Für die Entwicklung der liturgischen Musik im 2. Jahrtausend, v. a. seit dem 16. Jh. bis zum Missale Pauls VI. 1970 sind jene Rahmenbedingungen bedeutsam, die im Missale 1570 formuliert sind. L. vollziehen kann demnach ausschließlich der Klerus, das Volk nimmt daran teil, „hört die Messe“. Kirchenmusik als Bestandteil der L. ist diesem Prinzip unterworfen, daher ist die Ausübung der Kirchenmusik zunächst ebenfalls Klerikersache, die von (männlichen) Laien substituiert werden kann. Dies erklärt auch das oftmals (zuletzt 1903 im Motu proprio Pius’ X.) ausgesprochene, aber nie durchgehaltene Verbot der Teilnahme von Frauen an der Kirchenmusik bzw. die daraus entfaltete Kultur der Knabenchöre, welche aus dieser mittelalterlichen Tradition auch bei Anglikanern und Lutheranern noch weiterlebt.

Die Messliturgie kannte 1570–1970 zwei Formen. Bei der missa in cantu (Amt, Hochamt, als Bischofsmesse Pontifikalamt) wurde alles gesungen, es galten strenge kirchenmusikalische Ausführungsregeln (lateinisches Proprium [Introitus, Graduale, Alleluia oder Tractus, eventuell Sequenz, Offertorium, Communio] und Ordinarium [Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus/Benedictus, Agnus Dei] textlich vollständig zu singen, keine volkssprachlichen Gesänge), welche aber in der Praxis oft ignoriert worden sind, wie z. B. im 17./18. Jh., wo in Österreich das Proprium weitgehend durch Instrumentalmusik ersetzt worden ist. Bei der missa lecta (stille Messe) hat der Priester alle Texte still gebetet. Parallel dazu konnte in der Gemeinde vieles getan werden: Singen muttersprachlicher Kirchenlieder (josephinische Messlieder!), Orgelmusik, Rosenkranzgebet, stille Andacht usw. Die Betsingmesse der liturgischen Bewegung knüpfte an diese Form an. Die Volksfrömmigkeit entfaltete sich mit ihren (muttersprachlichen) Gesängen und Gebeten neben und außerhalb der „amtlichen“ L. und galt 1570–1970 als „paraliturgisch“, was aber für mittelalterliche L. nicht zutrifft: die Libri Ordinarii der mittelalterlichen Kathedralen und Klöster zeigen in ihrer Darstellung der wenigen Elemente von Gemeindebeteiligung und volkssprachlichem Singen deutlich, dass dies als integrierter Bestandteil der L. gesehen und verstanden worden ist. Begriffe wie Proprium und Ordinarium sind seit dem Missale 1970 und seiner erklärenden Allgemeinen Einführung überholt. Messgesänge werden heute eingeteilt in Gesänge mit selbständiger liturgischer Funktion (z. B. Gloria, Graduale/Responsorialpsalm) und in Begleitgesänge (z. B. Introitus, Agnus Dei, Communio).

Musik ist ein wesensnotwendiger und integraler Bestandteil der L., nicht bloß Umrahmung, Verschönerung oder „Einlage“. Musik gehört zur „forma nobilior“ des Gottesdienstes als Ausdruck des verkündeten und im Leben angenommenen Glaubens. Liturgische Musik muss in der Tradition der Begriffe Pius’ X. sanctitas – bonitas formae – communitas dem Anspruch genügen, liturgiefähig, künstlerisch wertvoll und gemeindetauglich zu sein. Dies bedingt heute einen höheren Anspruch an Auswahlkriterien und führt auch zu Konflikten mit überkommenen Praktiken sowie mit volkstümlichen neueren Entwicklungen wie „Mundartmessen“ usw. Im Unterschied zu Pius X., der bestimmte Repertoires wie den gregorianischen → Choral und die Musik der Palestrina-Zeit als wahre Kirchenmusik definierte (Cäcilianismus), ist seit der Liturgiekonstitution des 2. Vaticanums (Sacrosanctum Concilium 1963) grundsätzlich jeder Musikstil liturgiefähig, wenn ein Musikstück funktional in die Struktur des Gottesdienstes passt und die Inhalte der L. in adäquater Weise vermitteln kann. Dementsprechend wird dem Choral als einem vollkommenen Ausdruck liturgischer Theologie in musikalischer Gestalt ein hoher Stellenwert und eine wichtige Beispielfunktion eingeräumt. Die Verwendung von Instrumentalmusik ist von der bischöflichen Autorität zu regeln und nicht mehr an generelle Normen gebunden. Der Pfeifenorgel (Orgel) als traditionellem Musikinstrument der Westkirche kommt dabei ein besonderer Rang zu. Die Verwendung von Volkssprachen im Gottesdienst hat das Repertoire der Kirchenmusik im liturgischen Gebrauch wesentlich erweitert, v. a. im Gemeindegesang, der Grundlage des Singens und Musizierens im Gottesdienst ist. Chorgesang erfolgt in Stellvertretung der Gemeinde und darf diese niemals vom Singen ausschließen. Musik in der L. stellt heute mehr denn je das regionale Gesicht der Kirche dar, sie ist die konkreteste Form liturgischer Inkulturation und ihres Anspruchs, die L. mit dem Leben der Menschen heute zu verbinden.

Die L.-Wissenschaft beschäftigt sich mit allen Fragen des Gottesdienstes in historischer, systematischer und pastoraler Perspektive. Sie ist seit dem 2. Vaticanum ein Zentralfach in der theologischen Ausbildung und eng u. a. mit den Fragen der Kirchenmusikwissenschaft und ihrer Teilbereiche (z. B. Gregorianik, Hymnologie, Kirchenmusikgeschichte, Organologie usw.) verbunden.


Literatur
Archiv für Liturgiewissenschaft 1950ff (umfangreiche Literaturberichte); Heiliger Dienst 1947ff; H. Rennings/M. Klöckener (Hg.), Dokumente zur Erneuerung der L., 3 Bde. 1973–93; H. B. Meyer et al. (Hg.), Gottesdienst der Kirche. Hb. der L.-Wissenschaft 1984ff; R. Messner, Einführung in die L.-Wissenschaft 2001; M. Klöckener/B. Kranemann (Hg.), [Fs.] A. Häußling 2002; M. Kunzler, Die L. der Kirche 22003.

Autor*innen
Franz Karl Praßl
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Franz Karl Praßl, Art. „Liturgie‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x00021dfd
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