Die Suche nach historischer Legitimation im Zeichen des Historismus übertrug den Begriff auf ältere Musik: Als programmatische Stücke im weitesten Sinn werden experimentelle, Witz und Phantasie in den Vordergrund stellende Kompositionen der Gattungen Battaglia, Capriccio, Pastorale sowie in kleinen Formen der Kammermusik bezeichnet, die unter dem Einfluss bildlicher Darstellungen entstanden bzw. mit charakteristischen Titeln versehen sind und deshalb musikalische Nachahmung und Tonmalerei als musikalische Mittel verwenden. F. Liszt und W. Fischer nennen – so wie aktuelle Definitionen – Beispiele ab dem 16. Jh., A. W. Ambros greift bis auf die griechische Antike zurück. Demnach gelten Sätze der englischen Virginalisten und der französischen Clavecinisten, an österreichischer Musik z. B. Tombeaux von J. J. Froberger, Stücke wie die Battalia (1673), die Sonata representativa und die Rosenkranz-Sonaten (um 1674) von H. I. F. Biber oder das Capriccio über Henner- und Hannergeschrey und die Suite sopra la rebellione di Ungheria von A. Poglietti als P.
Im 18. Jh. enthalten in Deutschland und Frankreich oft Programmeinführungen Hinweise auf Bilder, literarische Vorlagen, auch Rückgriffe auf biblische bzw. historische Sujets, z. B. G. J. Werners Musicalischer Instrumentalkalender (1748), sog. malende Symphonien wie C. Ditters v. Dittersdorfs Sinfonien nach Ovids Metamorphosen Nr. 1–3, (1785) I. Holzbauers Sinfonia 10 in Es op. 4/3, deren Finalsatz als La Tempesta del mare bezeichnet ist, F. Kauers Nelsons grosse Seeschlacht (1798), und namhaft J. Haydns Musica instrumentale sopra le 7 ultime parole del nostro Redentore in croce ossiano 7 sonate con un’introduzione ed al fine un terremoto Hob. XX/1 (1786/87; Fassung für Streichquartett Hob. III:50–56). L. v. Beethovens Symphonie Nr. 6 in F-Dur op. 68 (Pastorale, 1808) markiert innerhalb dieser Entwicklung in doppelter Hinsicht einen Wendepunkt: sie setzt das Bedürfnis nach Ausdruck (vgl. gebundenes Spiel) in geänderter Absicht um („mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“) und wird zum Vorbild für jenes von F. Liszt als Reaktion auf die Bedeutung des Poetischen formulierte Konzept symphonischer Erneuerung, das dem Begriffsverständnis im 19. Jh. neue Bedeutung verleiht. Um 1835 – fast gleichzeitig wie R. Schumann, aber vom Einfluss der französischen Romantik geprägt und daher von anderen Voraussetzungen ausgehend –, hat Liszt ein Konzept poetischer Klaviermusik formuliert, die einerseits der mystischen Versenkung des Einzelnen dienen, andererseits von universeller Bedeutung sein soll. Dieses Ideal der Menschheitsmusik prägt seine Befassung mit der Gattung Symphonie, er (be)schreibt deren Weiterentwicklung als Symphonische Dichtung, also eine Symphonik, deren poetische Idee vom Komponisten hinweisend fixiert wird, um den Hörer vor Miss-Interpretationen zu bewahren. Symphonische P. hat von daher eine „sociale Mission“. Neben Werken Beethovens (außerdem die Klaviersonate op. 27/2, sog. Mondschein-Sonate) gilt C. M. v. Webers beschreibendes, einsätziges Concertstück für Klavier und Orchester als eines der ersten Beispiele romantischer P.
Zur eigentlichen Blütezeit des Konzepts hat Hector Berlioz durch die Rezeption seiner Kompositionen im deutschen Sprachraum eine Vorreiter-Rolle inne. Der österreichische Zusammenhang ist deshalb als Schauplatz von Entwicklungen der Gattungsgeschichte (J. Brahms, A. Bruckner) und der ästhetischen Auseinandersetzung wesentlich, wobei dieser Kampf der Richtungen das Konzertleben prägt (z. B. Diskussionen um die Ära Hans Richter) und wesentlich von der Musikkritik getragen wird. Bemerkenswert ist, dass in einem 1863 von der Gesellschaft der Musikfreunde ausgeschriebenen Wettbewerb unter 32 Konkurrenten ein programmatisches Werk ausgewählt wird, nämlich die 1. Symphonie in D-Dur op. 96 (An das Vaterland) von J. J. Raff (dessen sämtliche 11 Symphonien betitelt sind).
Dem ursprünglichen Konzept nach steht das narrative, illustrative Element keineswegs im Vordergrund, es ist nur solche Musik gemeint, die einen Charakter, eine Szene oder ein Phänomen nicht einfach beschreibend nachkomponiert, sondern signifikant repräsentiert. Aber im Lauf des 19. Jh.s kommt es in der Entwicklung orchestraler P. zu einer Trivialisierung: K. Goldmarks Ländliche Hochzeit (1876) ist v. a. Illustrationsmusik, ebenso geht R. Strauss in dieser Gattung den Weg von literarischer Inspiration zu mehr Illustration. Am Ende des Jh.s schwindet das Vertrauen der Komponisten in die Tragfähigkeit des Konzepts programmatischer Symphonik, ästhetisch wird die Idee von der absoluten Musik wieder vorrangig. Es spielt wohl im Prozess musikalischer Produktion noch eine Rolle (z. B. H. Wolf, Penthesilea 1883/85, S. v. Hausegger, Barbarossa 1900, G. Mahler, Symphonie Nr. 1 in D-Dur 1885-88, Symphonie Nr. 2 in c-Moll 1888–94, A. Schönberg, Verklärte Nacht 1899, Pelleas und Melisande 1902/03), als vermeintlich irrelevant für das musikalische Verständnis werden Programme aber zurückgezogen bzw. verschwiegen (G. Mahlers erste Symphonien, A. Schönberg), was in der Fachliteratur zum Aufsuchen „versteckter“ Programme (etwa bei Alban Berg) führt.
Daneben gibt es eine explizite Fortführung von P., v. a. im Dienst der von der Idee nationaler Identifizierung für eine breite Wirkung bestimmten Orchesterstücke (Nationalstil), die selbstverständlich auch auf dem Gebiet des Habsburgischen Vielvölkerstaats komponiert und aufgeführt wurden (auch Béla Bartóks erstes Orchesterwerk Kossuth folgt dieser Tradition). Die bekanntesten Beispiele sind die Ouvertüren und Symphonischen Dichtungen von A. Dvořák: Hussitische Ouvertüre (1867), Konzertouvertüre Mein Heim (1882), Zyklus aus 3 Konzertouvertüren Natur, Liebe und Leben (1891/92), Symphonische Dichtungen Der Wassermann, Die Mittagshexe, Das goldene Spinnrad, Die Waldtaube (alle 1896), oder F. Smetana: Mein Vaterland (1874–79), Richard III. (1858), Wallensteins Lager (1859), Hakon Jari (1861), Prager Karneval (1883). Mit seinen beiden Streichquartetten (1876 Aus meinem Leben und 1882) hat auch Smetana die Verarbeitung eigener Erlebnisse zum Programm gemacht. Ein komplexer Fall mehrfachen Wechselbezugs von Kunst gilt eigentlich nicht als P.: das 1. Streichquartett von L. Janáček (1929) bezieht sich mit der Bezeichnung Kreutzer-Sonate auf Leo Tolstois Novelle, die wiederum von Beethovens gleichnamiger Violinkomposition inspiriert ist.
Die Funktion von Programmen bzw. programmatischen Titeln als Hilfsmittel assoziativen Hörens (vgl. aber den bis heute andauernden Hang zu bildlichen Vergleichen in populärer Musikbeschreibung, v. a. in Konzertführern) wird in Stücken unterhaltenden Charakters genutzt (vgl. die sog. Salonmusik). Auch im 20. Jh. ist P. trotz des zunächst geringeren Ansehens keine verschwundene Gattung: Sie bildet einen wesentlichen Teil des Repertoires in der Militärmusik und der sog. Symphonischen Blasmusik (Blasorchester), z. B.: J. Fučik, Vier Symphonische Gedichte Für Österreichs Ruhm und Ehre op. 59 (1898), S. Tanzer, Suite Tirol 1809 (1954), C. M. Ziehrer, Der Traum eines österreichischen Reservisten, H. Schmid, Freiheitsglocken, Konzertmarsch (1955), H. Oberortner, Carinthischer Sommer, musikalische Skizze (1980), H. Weber, Die Fahrt ins Blaue (1958) und ist auch im Bereich der Kunstmusik immer wieder anzutreffen. Österreichische Beispiele sind: J. Bittner, Vaterland (1915), J. Marx, Castelli romani für Klavier und Orchester (1929/30), Th. Berger, Ballade vom Prinzen Eugen (1941), W. Skolaude, Malkunowo (1969). Dabei führt die Annäherung der Künste aber öfter zu einer Reihe anderer Lösungen (crossover, Visualisierungen, Multimedia), weil die Verfügbarkeit kompositorischer Mittel und die Offenheit von Stilen und Formen (Postmoderne) das musikalische Programm als Legitimationsstrategie für kompositorischen Regelbruch entbehrlich gemacht hat.
NGroveD 20 (2001) [Programm music]; Riemann 1967; MGG 7 (1997); M. Fink, Musik zu Bildern. Programmbezogenes Komponieren im 19. und 20. Jh. 1988.