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Quellen
Grundlagen für wissenschaftliche Aussagen, hier also alle Texte, Notierungen (Notation), Gegenstände, Beobachtungen, Tatsachen usw., aus denen nähere Kenntnis der Musik zu gewinnen ist. Nicht nur musikhistorisches Forschen (Musikgeschichte) beginnt mit der Suche nach und Ordnung von Qu., sondern auch ethnologische (Ethnomusikologie) und systematische Fragestellungen (Musikwissenschaft, vergleichende) bedürfen analoger Klärungen und Arbeitsschritte. In diesem Sinne hat jede Musikwissenschaft mit Qu. zu tun. Für den Umgang mit diesen wurden in einzelnen Teilbereichen, ausgehend von und in Verbindung mit ihren Mutter-Disziplinen (Geschichte, Ethnologie, Psychologie usw.), eigene und z. T. recht spezialisierte Methoden entwickelt. Für weitere Anregungen sollten sie auch in Zukunft offen sein. Die meist wesentlich engere Definition von musikalischen Qu., die Einschränkung von Qu.-Arbeit auf eine philologisch-historische oder die Betonung der quellenkundlichen und textkritischen Bearbeitung des tradierten Musikgutes als Kernstück „der“ Musikwissenschaft ist eine Folge der Wissenschaftsgeschichte, aber (2004) dabei, durch Erweiterung um neue Fragestellungen und Methoden überwunden zu werden.

In engerem Sinn werden als Qu. jenes vorhandene und daher auch nicht willkürlich erweiterbare Material bezeichnet, das in Archiven und Bibliotheken aufbewahrt wird oder – je nach Fragestellung – auch anderwärts zu suchen ist, das sind neben Noten, poetischen und literarischen Texten, Libretti, Periochen oder sonstigen schriftlichen Zeugnissen auch ungeschriebene Traditionen (oral history), Umfragedaten, Schallaufzeichnungen (Tonträgerproduktion), Instrumente, bildliche Darstellungen (Ikonographie der Musik) usw. Mit diesen korrespondieren Methoden wie die biographische, historische, Werkanalyse und -interpretation, Feldforschung, Umfragetechniken, Statistik u. v. a. Mussten diese jeweils speziell für die Anwendung auf Musik adaptiert werden, wäre dies bei anderen (z. B. den klassischen historischen Hilfswissenschaften: Heraldik, Numismatik, Sphragistik, Kodikologie, Wasserzeichenkunde u. a.) weder angebracht noch möglich.

Bei der Bearbeitung ist durchaus von Bedeutung, ob Qu. unabsichtlich („unwillkürlich“, als Überreste) oder absichtlich („willkürlich“, „zum Zweck historischer Kenntnis“, Tradition) überliefert wurden. Erstere hatten ursprünglich anderen Zwecken gedient (z. B. Urkunden, Matrikel, Protokolle, Rechnungsbücher, Widmungsvorreden, Theaterzettel, Verlagsprospekte). Letztere wurden zwar in Blick auf die Mit- und/oder Nachwelt geschaffen (z. B. Autobiographien, Memoiren, Chroniken, Notenausgaben, Denkmäler), doch ist ihr unvermeidlich subjektiver Anteil besonders zu bedenken. In idealtypischer Weise erfolgt die Aufarbeitung nach den von Johann Gustav Droysen (Historik, 1857/1882) entwickelten vier Schritten: Heuristik (Auffinden der für die Fragestellung relevanten Qu. und deren Erfassen); Qu.-Kritik (oder -Wertung, Frage nach dem Aussagewert der Qu., deren ursprünglichem Aussehen, der vom Autor gewollten Form, Echtheit; Bewertungsmaßstäbe: „Nähe“ zu dem zu erforschenden historischen Zustand u. a.; ein Autograph wird einem Zeugnis aus „zweiter Hand“ vorgezogen, danach die Unterscheidung von zeitlich und räumlich nahen Primär-Qu. gegenüber Sekundär-Qu., die als Reflex auf das Geschehen anzusehen sind und ebenfalls vom Standpunkt des Betrachters gefärbt sind; bei Fehlen von Primär-Qu. werden normalerweise nächststehende Sekundär-Qu. [auch sog. Sekundärliteratur wie Nachschlagewerke, Zeitschriften, Jahrbücher, Tagungsberichte] herangezogen; wegen der Abhängigkeit von der Fragestellung ist eine verbindliche Systematik unmöglich); Interpretation der Qu.n (führt zu Aussagen über Vergangenes); Historiographie (Darstellung mit Einbindung der Ergebnisse in den geschichtlichen Zusammenhang). War das Ergebnis die Neuedition eines Musikwerks (Denkmälerausgaben, Gesamtausgaben, Museum), kann diese Grundlage der musikalischen Interpretation (Aufführungspraxis) werden (die Wortbedeutungen sind also analog und die dahinter stehenden Tätigkeiten stärkstens aufeinander bezogen).

Früheste konkrete Qu. stellen naturgemäß Gerätschaften und Abbildungen dar (Archäologische Funde), gefolgt von Pergament- (Choral) und Papier-Handschriften (Trienter Codices, die Handschriften von H. Poetzlinger, N. Leopold, B. Lechler und Th. Schrenk, Lautentabulaturen, Codex Rost) etc. Die Überlieferung von Autographen (bei denen also Urheber einer Komposition und Hersteller einer Qu. zusammenfallen, die Textgestalt „autorisiert“ ist) setzt in Österreich mit H. Isaac ein. Bis dahin waren Musikhandschriften von Spezialisten hergestellt worden, in klösterlichen Skriptorien meist in Kooperation mehrerer Personen (Vorbereitung, Text, Notation, Buchschmuck und -bindung). Organisierte bürgerliche Werkstätten waren hier offenbar erst ab der Renaissance üblich, daneben gab es an kleineren Höfen wie auch größeren Kirchen eigene Schreibstuben. Schreibarbeiten einzelner Personen, meist Benutzern selbst, ergänzen die Qu.-Überlieferung. Mit dem Aufkommen des Notendruckes und Verlagswesens (Musikverlag) entstand eine neue Art, die vorübergehend auch die Herstellung von Handschriften prägte. Die Berufskopiatur spielte bis weit ins 19. Jh. eine große Rolle, Kopiaturbetrieb und Verlagshaus bildeten oft eine Einheit (z. B. J. Traeg in Wien, wahrscheinlich auch F. Ferstl in Graz, F. X. Glöggl in Linz). Mit fortschreitender Zeit, v. a. seit dem 18. Jh., liegt eine zunehmend reiche Qu.-Überlieferung in Form von Autographen, Partitur-Abschriften, Uraufführungsstimmen, Originalausgaben, Stichvorlagen u. ä. vor. Da Original-Qu. nicht immer zugänglich sind (sei es wegen ihres Alters, hohen Werts, wegen Lese- oder Notationsproblemen etc.), werden Bücher fallweise durch Reprints, Notenhandschriften durch Faksimilia zugänglich gemacht.

Der Anstoß zur kritischen Qu.-Forschung und damit zur systematischen Qu.-Erfassung ging einerseits von Sammlern wie A. Fuchs oder S. Molitor aus, andererseits von der ebenfalls schon zu Beginn des 19. Jh.s einsetzenden Beschäftigung mit den sog. Großmeistern. Pioniere waren zumeist Musik-interessierte Gelehrte anderer Fachrichtungen (insbesondere Philologie), die deren Möglichkeiten auf die Musik zu übertragen suchten. Nach Mustern wie der unvollendet gebliebenen Monographie über G. F. Händel (Leipzig 1858–67) von Friedrich Chrysander (1826–1901), dem deutschen Begründer der modernen methodischen Qu.-Forschung, entstand z. B. die über J. J. Fux (Wien 1872) von L. v. Köchel. Dieser hatte vorher schon mit seinem Chronologisch-thematische[n] Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts (Leipzig 1862) eine Pionierleistung vollbracht. Seither bilden Werkverzeichnisse neben Katalogpublikationen öffentlicher und privater Bibliotheken eine wichtige Voraussetzung für die Erarbeitung wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Editionen. Eine Pioniertat bedeutete auch das Biographisch-bibliographische Qu.-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten (Leipzig 1900–04) von Robert Eitner (1832–1905), das gleichzeitig die Suche anhand von Überlieferungsstätten eröffnete.

Große Qu.-Verluste im Zweiten Weltkrieg führten in der Folgezeit zu verstärkten Bemühungen um Qu.-Editionen (Faksimilia, Nachdrucke, Dokumentarbiographien [Biographie], Gesamtausgaben) und 1952 zur Gründung des Répertoire International des Sources Musicales (RISM, Internationales Quellenlexikon der Musik; Zweigstellen in Wien und Innsbruck) zwecks weltweiter katalogmäßiger Erfassung und Dokumentation von Musikhandschriften und -drucken (Handschriften von 1600 bis 1880, andere Bereiche mit anderen Zeithorizonten). In diese fügt sich, als Abspaltung vom vorliegenden Lexikon, die ebenfalls von der Akademie der Wissenschaften in Wien seit 1964 herausgegebene Serie Tabulae musicae Austriacae. Weitere Impulse kamen u. a. auch von Hannelore Gericke (Der Wiener Musikalienhandel von 1700–1778, Graz 1960), O. E. Deutsch (Musikverlagsnummern. Eine Auswahl von 40 datierten Listen 1710–1900, Berlin 21961), A. Weinmann (Beiträge zur Geschichte des Alt-Wiener Musikverlages, Wien ab 1948), durch das Informationssystem für Volksliedarchive in Österreich (INFOLK, Wien 1991) u. a.


Literatur
A. v. Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften 151998; N. Schwindt-Gross, Musikwissenschaftliches Arbeiten. Hilfsmittel – Techniken – Aufgaben 41999; MGG 7 (1997); F. W. Riedel in Acta mus. 38 (1966); G. Feder (Hg.), Quellenforschung in der Musikwissenschaft 1982; INFOLK. Informationssystem für Volksliedarchive in Österreich in JbÖVw 39/40 (1990/91), 81–216; zit. Lit.

Autor*innen
Ingrid Schubert
Rudolf Flotzinger
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Ingrid Schubert/Rudolf Flotzinger, Art. „Quellen‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001de29
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