Singen
Sprechen und
S. sind primäre, im Verlauf der biologischen Evolution des Menschen entstandene, sinnesbedingte Kommunikationsmöglichkeiten. Auf der für alle Menschen in gleicher Weise ausgeprägten biologischen Basis haben sich kulturspezifische Varianten entfaltet (
Anthropologie). In den Kulthandlungen aller Religionen wird die Diesseits und Jenseits verbindende Kraft des
S.s von Schamanen, Medizinmännern, Zauberern, Priestern, Mönchen sowie der Gemeinde genutzt. Im politischen und geselligen
S. ist es die gemeinschaftsbildende Kraft des
S.s, die die Mitglieder unterschiedlicher Ansammlungen (
Meistersinger, marschierende Soldaten, bürgerliche [
Männergesang] und Arbeitersängerverbände [
Arbeitermusikbewegung], Burschenschaften, Rotary, jugendbewegte [
Jugendmusikbewegung] und folkloristische Singkreise etc.), konfessionell oder politisch ausgerichtete Schulklassen ebenso wie die Zuhörer modischer Popularmusikgruppen emotional aneinander bindet und ihnen eine gemeinsame Ideologie indoktriniert. Solche Gruppierungen veröffentlichen daher ihre eigenen
Liederbücher.
Medizinisch-therapeutisches S. nimmt Einfluss auf physische Konditionen und psychologische Befindlichkeiten des Menschen (Musiktherapie). S. als seelische Entlastung, man „weint und singt sich Kummer von der Seele“, Trotz und Protest finden psychische Verarbeitung im S. In Liedern werden positiv wie negativ Sanktionen ausgesprochen, d. h. Begrüßung und Glückwunsch (Ansingen) ebenso wie Spott und Verwünschung, im S. solidarisieren sich Menschen, „indem einzelne sich in einer Gruppe wiederfinden oder bewußt zusammenschließen, um sich gegenseitig Mut zu machen und Geschlossenheit und Kampfeseifer zu demonstrieren“ (H. Segler): Das sind interkulturell verbreitete Verhaltensmuster des singenden Menschen. In der europäisch-abendländischen Hochkultur, wo Gesang zur Kunst wird und schließlich in „L’art pour l’art“ mündet, wo demnach das Wissen um die primären Wirkweisen des (gemeinsamen) S.s vielfach verloren gegangen ist, bleiben doch dessen primäre physische und psychische Mechanismen in Kraft.
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15.5.2006
Wolfgang Suppan,
Art. „Singen“,
in:
Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung:
15.5.2006, abgerufen am
),
https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e287
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