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St. Emmeram-Codex
Mensuralcodex der Bayerischen Staatsbibliothek (Clm 14274) mit gewissen Wiener Wurzeln, zuletzt im Besitz des Benediktinerklosters St. Emmeram in Regensburg/D, eine Quarthandschrift (Buchblock 20,9 x 28,8 cm), enthält in 13 Lagen 159 Blätter mit 276 Stücken (Zählung durch Karl Dèzes).

Davon sind die Lagen 2–7 (fol. 81r) schwarz, die Lagen 7 (fol. 81v) – 13 und die Lage 1 weiß notiert. Lage 1 schließt an 13 an und zählt somit zum jüngsten Teil der Handschrift. Innerhalb des weiß geschriebenen Teils des Codex bilden die Lagen 11 ab fol. 129r – 13 und 1 insofern eine Einheit, als sie durchgehend von Schreiber D (Wolfgang Chranekker, s. u.) notiert sind. Ein vom Besitzer und Hauptschreiber C. Poetzlinger angelegter Index, der zu den ältesten thematischen Inhaltsverzeichnissen (Werkverzeichnis) zu zählen ist, schlüsselt den Inhalt mit Ausnahme der jüngsten Teile auf. Die Handschrift entstand in mehreren Phasen und über einen längeren Zeitraum hinweg, wie die verwendeten Papiersorten (neun Wasserzeichen mit zwei bzw. drei Varianten), der Wechsel von schwarzer zu weißer Mensuralnotation und die Anzahl der Schreiber zeigen. Neben Poetzlinger (dem schwarz und weiß notierenden Schreiber A) unterscheidet Ian Rumbold als weitere Hauptschreiber B (schwarz), C und D (beide weiß); dazu kommt eine Anzahl weiterer, von Rumbold nicht näher spezifizierter Schreiber. Der Beginn von Poetzlingers Sammel- und Schreibtätigkeit fällt mit größter Wahrscheinlichkeit in die Zeit seines Wiener Studienaufenthalts (1436–1438/39): Den im Index der Handschrift als Komponisten eines Sanctus (Nr. 100) genannten und aufgrund von Akrosticha mit zwei weiteren Sätzen (Nr. 88 und 95, s. Tbsp.) in Verbindung gebrachten, in Wien an der theologischen Fakultät lehrenden Rudolf Volkhardt von Heringen († 1465) muss Poetzlinger in Wien kennengelernt haben. Mutmaßlich ist er schon damals dem Kantor an St. Stephan H. Edlerawer begegnet, von dem in den jüngeren, weiß notierten Teilen des Codex sieben Sätze enthalten sind (Nr. 11, 200, 215–216, 227, 260 und 276). Umstritten ist die Entstehung der jüngeren Schichten: Dagmar Braunschweig-Pauli verlegt zumindest einen Teil des Codex in die Zeit von Poetzlingers Leipziger Studienaufenthalt (Wintersemester 1456/57–1458/59), da die sieben enthaltenen Kompositionen seiner Studienkollegen Johannes Waring (Nr. 249), Urbanus Kungsperger (Nr. 252 und 255–256, s. Tbsp., Braunschweig-Pauli zufolge auch Nr. 257) und Wiquardus (Nr. 251 und 258) unter den letzten zehn Stücken der Lage 11 zu finden sind. Verbindungen zu Leipzig/D lässt ferner eine Konkordanz zum Ms. 1084 der Leipziger Univ.sbibliothek aus dem Besitz von Johannes Klein vermuten, der 1447–52 dort studiert hatte: das Kontrafakt Virgo rosa (Nr. 250 in St. E.) zu Gilles Binchois Chanson C’est assez enthält in beiden Quellen vom Original abweichende Lesarten. Auf eine frühere Entstehung deuten die Wasserzeichen. Für enge Bindungen an Wien sprechen die Sätze des Kantors Edlerawer, die in den Lagen 9 (Schreiber A weiß und Schreiber C), 10 (Schreiber C), 12, 13 und 1 (jeweils Schreiber D) enthalten sind. Schreiber D ist ebenfalls im Wiener Umfeld zu lokalisieren, da die von ihm geschriebene im Cod. 5094 der ÖNB enthaltene (Orgel-)Partitur eventuell in einem Wiener Kloster entstanden ist. Er wurde von Peter Wright (2010) als Wolfgang Chranekker identifiziert, einem Organisten in der Wallfahrtskirche St. Wolfgang/OÖ. Die Entstehung des Codex lässt schon deshalb noch Fragen offen, weil außer Wien und Leipzig weitere Aufenthaltsorte Poetzlingers eine Rolle gespielt haben könnten, zu denen bisher keine näheren Forschungen angestellt wurden. So deuten die Namen „Eugenius et dux beatus“ sowie „sancta Eugenia et ducissa beatrix“ statt „Eugenius et rex Sigismundus“ in Guillaume Dufays Supremum est mortalibus (Nr. 219 im St. E.-C.) wohl auf Herzog Johann von Amberg-Mosbach und seine Frau Beatrix. Poetzlinger hatte verschiedentlich in der Oberpfalz (Regensburg, Auerbach etc.) gelebt.

Der Codex St. E. enthält zentraleuropäische und ausländische (insbesondere franko-flämische und italienische) Kompositionen vom späten 14. Jh. bis unmittelbar in seine Entstehungszeit und zeigt deshalb wie keine andere Handschrift, welches Repertoire im zentraleuropäischen Raum bekannt und verbreitet war. Dem vielschichtigen Repertoire entspricht die Vielfalt an verwendeten Notationstypen. Die Handschrift repräsentiert nicht nur aufgrund der enthaltenen einheimischen Sätze das Niveau zentraleuropäischer Musikausübung, sondern auch in der Art der Überlieferung ausländischer Kompositionen: Ursprünglich weltlich textierte Sätze sind entweder kontrafaziert oder textlos aufgezeichnet. Mitunter ist die Stimmenzahl reduziert (Contratenores fehlen oder werden von Schreiber D nachgetragen) und der Rhythmus vereinfacht. Für verschiedene Sätze hat der Codex jedoch als „gute“ Quelle zu gelten (etwa für Binchois’ C’est assez pour morir, Nr. 247). Aufgrund dieses Befundes mag der Codex St. E. als die wichtigste Handschrift des mitteleuropäischen Raums mit Mensuralmusik aus der Mitte des 15. Jh.s vor den Trienter Codices gelten.


Literatur
K. Dèzes in ZfMw 10 (1927–1928); T. Ward in Early Music History 1 (1981); D. Braunschweig-Pauli in KmJb 66 (1982); I. Rumbold in Early Music History 2 (1982); R. Strohm in L. Finscher (Hg.), [Kgr.-Ber.] Datierung u. Filiation von Musikhss. der Josquin-Zeit. Wolfenbüttel 1980, 1983; R. Strohm in Mus. disc. 38 (1984); M. Bente et al., Bayerische Staatsbibl., Kat. der Musikhss.: 1, Chorbücher und Hss. in chorbuchartiger Notierung 1989; B. Schmid in Musik in Bayern 43 (1991); Beiträge von L. Welker u. T. Ward in J. Kmetz (Hg.), Music in the German Renaissance. Sources, Styles, and Contacts 1994; T. Ward in M. Staehelin (Hg.), [Kgr.-Ber.] Gestalt u. Entstehung musikalischer Quellen im 15. und 16. Jh. Wolfenbüttel 1992, 1998; B. Schmid in I. Klemenčič (Hg.), [Kgr.-Ber.] Musikalische Identität Mitteleuropas. Ljubljana 2003, 2004; I. Rumbold/P. Wright, Hermann Pötzlinger’s Music Book. The St Emmeram Codex and its Contexts 2009; P. Wright in R. Kleinertz/Chr. Flamm/W. Frobenius (Hg.), [Fs.] Klaus-Jürgen Sachs zum 80. Geburtstag 2010; MGG 8 (1998).

Autor*innen
Bernhold Schmid
Letzte inhaltliche Änderung
15.10.2010
Empfohlene Zitierweise
Bernhold Schmid, Art. „St. Emmeram-Codex“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.10.2010, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e3e7
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© 2012 Verlag der ÖAW
Urbanus Kungsperger, Sanctus

© 2012 Verlag der ÖAW
Rudolf Volkhardt, Benedicamus regi unico