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Symphonische Dichtung
Als Spezialfall von Programmmusik bzw. Programmsymphonie aus der (Konzert-)Ouvertüre entwickelte Form meist einsätziger Orchesterwerke des 19. und 20. Jh.s, deren Gestaltung als Produkt einer Verbindung von Musik mit anderen Künsten (v. a. Literatur) verstanden wird, die auf ihrer Anschauung als Metasprache, als höchste Poesie beruht. Der Begriff selbst wurde vor dem Hintergrund der seit dem Beginn des 19. Jh.s in der Klaviermusik verbreiteten Übernahme von Gattungsbezeichnungen aus dem Bereich der Dichtung (vgl. Ekloge, Ballade, Lied ohne Worte) geprägt: F. Liszt hat ihn mit Bezug auf die von den theatralischen Vorbildern unabhängigen bzw. als Konzerstücke komponierten Ouvertüren L. v. Beethovens (u. a. Egmont op. 84, Coriolan op. 62, Die Weihe des Hauses WoO 124, Namensfeier op. 115) und Hector Berlioz’ (Waverly, Rob Roy, Roi Lear) zunächst in französischer Form (poème symphonique) für die Beschreibung von Rich. Wagners Ouvertüre zu Tannhäuser verwendet, anschließend auf deutsch für seine Ouvertüre Tasso (1854) und dann für insgesamt 13 Werke (seinen 1856–1861 gedruckten Zyklus von teils aus Ouvertüren umgearbeiteten Orchesterwerken, u. a. Mazeppa, Les Préludes, Hunnenschlacht, sowie für das 1881/82 entstandene Von der Wiege bis zum Grabe). Deren gemeinsames, die s. D. als Gattung bestimmendes Konzept bezieht sich auf die kompositorische Absicht, „ein deutlich vorhandenes Bild, eine Folge von Seelenzuständen“, die dem Komponisten „unzweideutig und bestimmt im Bewusstsein liegen, ebenso klar wiederzugeben“ (Liszt). Die daraus vielfach resultierende kompositionstechnische Neuheit im Sinn von Regelverstößen gegen die Traditionen des Satzes erschwert eine werkgetreue Rezeption, was durch Fixierung der „poetischen Idee“ ausgeglichen werden soll, die den Hörer vor Missverständnissen bewahrt. Das bedeutet, dass die Musik eben nicht die mit ihr verbundenen Werke illustriert und nacherzählt, sondern das in ihnen nicht Darstellbare, die „konkreten Gefühlsinhalte“ (Wagner) gestaltet. Liszt verwendet dazu das Verfahren der Motivtransformation, d. h. der Ableitung entgegengesetzter und scheinbar heterogener Motive aus denselben melodisch-rhythmischen Grundstrukturen. Komponisten nach Liszt veränderten sowohl das Konzept der Gattung, als auch deren Gestaltungsmerkmale: F. Smetana wechselte von literarischen Sujets Richard III. (1858), Wallensteins Lager (1859), Hakon Jari (1861) zu Stoffen der Nationalromantik Ma vlast (1874–79), Prager Karneval (1883) und damit zu einer Adaption der Gattung, die weite Verbreitung in der musikalischen Alltagskultur Europas fand. Besonders in den Ländern der Donaumonarchie (nicht nur wie häufig beschrieben in Böhmen, Mähren und Ungarn) wurde sie so ein wichtiges Element eines identitätsstiftenden Repertoires (Nationalstil).

R. Strauss wiederum verwendete den schon 1830 von Carl Löwe für Mazeppa gebrauchten Begriff Tondichtung und stützte sich darin mehr auf musikalische Illustration als auf den Ausdruck der „poetischen Idee“, wobei er als Sujets nicht nur Kunstwerke (Macbeth 1886/90, Don Juan 1888) verwendete, sondern auch philosophische Ideen (Also sprach Zarathustra 1896) und speziell Autobiographisches (Ein Heldenleben 1898, Sinfonia domestica 1903).

Der Nationalmusik zugeschriebene Werke im österreichischen Kontext sind u. a.: A. Dvořák (Der Wassermann, Die Mittagshexe, Das goldene Spinnrad, Die Waldtaube, alle 1896), Z. Fibich (u. a. Zaboj, Slavoj und Ludek 1873, Toman und die Waldnymphe 1875), V. Novak (u. a. In der Tatra 1902, Toman und die Waldnymphe 1907), 1907), Josef Suk (u. a. Prag 1904, Ein Sommermärchen 1909, Legende von den toten Siegern 1919), St. Ludkewytsch (Symphonie-Kantate Kavkaz [Kaukasus], 1905–13), Béla Bartók (Kossuth 1903), E. Kálmán (Endre és Johanna 1905), B. Bersa (u. a. Hamlet 1897, Suncana polja [Sonnige Felder] 1919, Idila 1902, Capriccio-Scherzo 1902).

In den Jahrzehnten um 1900 entstand darüber hinaus in Österreich eine ganze Reihe von s.n D.en, u. a. H. Wolf (Penthesilea 1883), S. v. Hausegger (Dionysische Phantasie 1896), F. Weingartner (König Lear op. 20, 1897, Das Gefilde der Seligen op. 21, 1897), O. Kitzler (Der Fischer und die Seenixe), E. W. Degner (Der Zug des Todes, Römischer Triumphzug,Theater-Novelletten), J. Fucik (Vier symphonische Gedichte – Für Österreichs Ruhm und Ehre op. 59, 1898), A. Schönberg (Pelleas und Melisande 1903), J. J. Abert (Columbus), E. N. v. Reznicek (Schlemihl, ein Lebensbild 1911/12, Der Sieger 1913), J. Bittner (Vaterland 1915). Teilweise sind sie im Bereich von Gebrauchsmusik angesiedelt.

In der Auseinandersetzung um Inhalt und Form in der Symphonik des 19. Jh.s spielte die s. D. eine zentrale Rolle und wurde dabei –- je nach Standpunkt – als poetisch inspirierte freie Form oder als mangelhafte Formbildung verstanden. Mit dem Aufkommen der Moderne und der wachsenden Popularität der Idee von der absoluten Musik verlor die s. D. mit ihrer speziellen Verankerung in der romantischen Ästhetik (poetische Idee) mehr noch als die Programmmusik insgesamt an Aktualität und an Prestige – so wurde G. Mahlers 1. Symphonie 1889 als s. D. uraufgeführt (Tondichtung Der Titan), später wurden vom Komponisten aber die Programme seiner ersten vier Symphonien getilgt. Trotzdem gibt es auch für seine weiteren Symphonien Hinweise auf „innere Programme“. Im Laufe dieser Entwicklung verlor der Begriff s. D. an Schärfe, er wurde und wird letztlich auf programmatische Orchesterwerke unterschiedlichsten Gehalts und Stils angewandt. Ästhetisch traditionell (im Sinn der Nachromantik) ausgerichtete Komponisten verwenden die Gattungsbezeichnung bis heute (2005) oft aus Anlass von Gedenktagen bzw. wenn Patriotisches vertont wird: Felix von Weingartner (Frühling op. 80, 1930), F. X. Müller (Heimat 1936), R. Maux (Die Flucht der Heiligenfiguren op. 395, 1938), Kamillo Lendvai (Mauthausen), A. Melichar (Der Dom, Wiener Impressionen), Th. Berger (Rondino giocoso, Malinconia, Die Legende vom Prinzen Eugen, Rondo ostinato, Concerto manuale), B. Hartl (Rondo Dramatico, Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel), E. Aichinger (Zum Sterben bin ich viel zu jung 1994).


Literatur
Riemann 1967; NGroveD 24 (2001) [Symphonic poem]; MGG 9 (1998).

Autor*innen
Cornelia Szabó-Knotik
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2006
Empfohlene Zitierweise
Cornelia Szabó-Knotik, Art. „Symphonische Dichtung‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e417
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