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Tondokumente
Systeme für die Speicherung und Wiedergabe akustischer Signale (Tontechnik, Tonträgerproduktion). 1877 erfand Thomas A. Edison den Phonographen, 1887 Emile Berliner das Grammophon. Die Wissenschaft bemächtigte sich sehr rasch der Möglichkeit, die flüchtigen akustischen Phänomene festzuhalten und durch zeitversetzte Wiedergabe systematisch erforschbar zu machen. Nach ersten phonetischen Untersuchungen sind es die linguistischen und anthropologischen Disziplinen im weitesten Sinn, darunter die Musikethnologie (Ethnomusikologie), die die Schallaufzeichnung seit 1890 systematisch zur Erstellung wissenschaftlicher Quellen einsetzen (Phonographie).

Diesen bewusst von der Wissenschaft als Quellen hergestellten unikalen Dokumenten stehen die Produkte der Ende der 1890er Jahre entstehenden Schallplattenindustrie gegenüber, die im Verhältnis zur tatsächlich gespielten Musik ästhetisch überformte Kunstprodukte sui generis darstellen (Tonträgerproduktion, Medien). Auch sie sind freilich Quellen für die Musikwissenschaft, einerseits für eine Interpretationsforschung, andrerseits für die systematische Erforschung aller jener (Popular-)Musikstile, die im Wesentlichen über Tonträger, mittlerweile auch Videogramme (Musikvideo), vermittelt werden.

Während die Rolle der Tonaufzeichnung in der Musikethnologie (vgl. Musikwissenschaft, Volksmusikforschung) seit ihrer Erfindung konstitutiv für die Entwicklung der Disziplin war, spielt die systematische Beschäftigung mit dem Tondokument als potentieller Quellengattung in der historischen Musikwissenschaft (Musikgeschichte) eine geringe Rolle, insbesondere angesichts des Umstandes, dass – auch im Bereich der sog. klassischen Musik – der Musikkonsum über Tonträger bei weitem die unmittelbare Rezeption in Konzerten etc. überwiegt. Dementsprechend unausgeprägt und auf Randbereiche (z. B. Jazz) beschränkt ist die Erstellung von Diskographien, die Erfassung der Produkte der Tonträgerindustrie. Erst in Ansätzen entwickelt sich eine Diskologie zur systematischen und kritischen Einbeziehung dieser Quellengattung in die Musikwissenschaft.

Die Sammlung und Bewahrung von T.n erfolgt für den Bereich der unikalen, meist durch Feldforschung gewonnenen Aufnahmen nur zum geringeren Teil in spezifischen Archiven, überwiegend in Forschungs- bzw. kulturellen Institutionen, die die T. herstellen; oft verbleiben sie auch bei den Forschern selbst. Die Produkte der Schallplattenindustrie werden z. T. von nationalen Institutionen systematisch, jedoch auch von vielen Musikbibliotheken als Ergänzung der traditionellen Bestände (selektiv) gesammelt. In manchen Ländern besteht, analog zur Regelung bei Büchern, eine gesetzliche Abgabepflicht (dépôt légal) von industriell vervielfältigten Ton- und Videoträgern.

Die langfristige Bewahrung von T.n und anderen audiovisuellen Dokumenten ist ungleich komplexer als die von traditionellem Schriftgut (Museum). Audiovisuelle Dokumente sind Abbilder physikalischer Zustände (Fotos) bzw. Abläufe (Audio- und Videoaufnahmen), bei denen jedes Detail (potentielle) Information darstellt. Gegenüber Textdokumenten (Text) weisen sie daher einen wesentlich geringeren Grad von Redundanz auf und erfordern somit einen höheren Grad an Unversehrtheit. Zusätzlich sind sie im Allgemeinen physisch und chemisch instabiler als Papier, die Lebenserwartung besonders der modernen Datenträger kann nur in Jahrzehnten erhofft werden. Schließlich sind sie als maschinlesbare Dokumente von spezifischen Abspielgeräten abhängig, die für die modernen Formate nur in Großserie gebaut werden können. Die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Verkürzung der Formatlebenszyklen schafft gerade für die modernsten Datenträger schwer lösbare Probleme für die künftige Verfügbarkeit. Die Zeit seit rund 1980 ist (2006) geprägt vom Rückzug der Tonträgerproduktion aus der analogen Technik, 2003/04 wurde die Produktion von analogen Tonbandgeräten eingestellt, und die Verfügbarkeit von Ersatzteilen läuft zunehmend aus.

In der Voraussicht auf diese Entwicklung waren es die Schallarchive, die um 1990 einen für die Bewahrung mittlerweile auch von Videodokumenten entscheidenden Paradigmenwechsel vollzogen: Nicht die Bewahrung des originalen Archivstückes ist anzustreben, weil letztlich aussichtslos, sondern die Bewahrung des auf dem Original gespeicherten Inhalts, und die fortgesetzte Kopie dieses Inhalts auf die jeweils verfügbaren Speichersysteme. Verlustlos ist dies allerdings nur in der digitalen Domäne möglich, sodass analoge Tondokumente zuerst digitalisiert werden müssen. Da das Volumen der weltweit gespeicherten Ton- und Videodokumente auf rund 200 Millionen Stunden geschätzt wird, muss selbst bei selektiver Archivierung ein hoher Automatisierungsgrad zur Bewältigung der zu betreuenden Volumina eingesetzt werden. Neben der Bewahrung ist auch der effiziente Zugang zu T.n besonders für Rundfunkarchive konstitutiv; daher wurden seit 1992, zunächst in den Archiven der ARD, Digitale Massenspeicher Systeme (DMSS) eingeführt, deren Inhalte durch Fernzugriff verfügbar sind. Mittlerweile finden derartige Systeme auch in nationalen und Forschungs-Schallarchiven Eingang.

Die prinzipielle Problematik der langfristigen Bewahrung audiovisueller Dokumente sowie die Komplexität der zu setzenden Maßnahmen birgt für die (noch) unversorgten T. die Gefahr, im Laufe der nächsten Zeit entweder durch fortschreitende Zersetzung der Originale oder durch Mangel an Abspielgeräten verloren zu gehen. Das stellt eine Bedrohung insbesondere für die Musikethnologie dar, zumal ohne systematische Überführung dieser Bestände in archivalische Obhut wesentliche Erkenntnisse dieser Disziplin ihrer Quellen beraubt und nur mehr aus der beschreibenden Literatur, die gegenüber den T.n nur Sekundärcharakter hat, nachvollziehbar werden.

Durch die Gründung des Phonogrammarchivs 1899 und seine zentrale Rolle als nunmehr audiovisuelles Forschungsarchiv (seit 2001) ist die Situation der Forschungsdokumente in Österreich vergleichsweise günstig. Die Sammlung der Produkte der Tonträgerindustrie liegt in Österreich in den Händen der Österreichischen Mediathek (Phonothek), eine Pflichtablieferung besteht jedoch nicht. Beide Institutionen sind ins internationale audiovisuelle Archivwesen gut eingebunden und haben zur theoretischen und praktischen Entwicklung moderner audiovisueller Archivkonzepte aktiv beigetragen.

Ein namhafter österreichischer Beitrag zur Einbeziehung von T.n in die musikwissenschaftliche Forschung ging von der Musiksoziologie um und nach K. Blaukopf aus, die sich u. a. mit der medialen Verbreitung von Musik und der daraus resultierenden Rückwirkung auf das Kulturschaffen (Mediamorphose) beschäftigt.


Literatur
M. Elste in Jb. des Staatlichen Instituts f. Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1983/84; www.iasa-web.org/iasa0013.htm (9/2001); K. Bradley (Hg.), IASA-TC 04 Guidelines on the Production and Preservation of Digital Audio Objects 2004; D. Schüller in [Kgr.-Ber.] Fortschritte der Akustik. Wien 1990, hg. v. der Dt. Arbeitsgemeinschaft f. Akustik (DAGA) 1990; D. Schüller in Mitt. der Anthropologischen Ges. Wien 125/126 (1995/96); D. Schüller in Journal of the Audio Engineering Society (JAES) 7–8/49 (2001).

Autor*innen
Dietrich Schüller
Letzte inhaltliche Änderung
06/05/2001
Empfohlene Zitierweise
Dietrich Schüller, Art. „Tondokumente“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 06/05/2001, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e4b9
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