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Kabarett, Cabaret
Sammelbegriff für verschiedene Formen städtischen Vergnügungstheaters; frz. Schenke, Wirtshaus, Gasthaus, auch eine in Fächer geteilte Schüssel (vgl. span. caba retta = bunte Schüssel). Von zentraler Bedeutung sind der Rahmen (kleine Bühne) und die charakteristische Folge mehrerer Szenen, Lieder, Parodien oder Sketches, verbunden durch eine Conference. Mit C. wird in der Literatur die literarische Unterhaltungsform bezeichnet, während K. die v. a. politische Satire meint. Berührungspunkte bestehen zu Revue und Varieté, in Wien auch besonders zur Operette.

Die Gründung des C.s Chat Noir in Paris 1881 gilt als Beginn der K.-Kultur. Die Anfänge des Wiener C.s fallen mit der besonders in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jh.s enorm zunehmenden Wandlung Wiens zur Großstadt zusammen. Weniger als das französische Vorbild, die Pariser c.s artistiques, waren es hier Traditionen des Volkstheaters, die die junge C.-Szene prägten. Dabei sind für die im engeren Sinn wienerischen Traditionen hier besonders die Volkssänger, Harfenisten und Bierfiedler (etwa in den Singspielhallen und Vergnügungslokalen im Prater), für die im Zuge der Metropol-Werdung importierten Formen hingegen speziell die schwerpunktmäßig in der Leopoldstadt (Wien II) entstehenden jüdischen Unterhaltungsbühnen zu nennen. Unter den zahlreichen Varietés der Leopoldstadt befanden sich auch groß aufgezogene und langlebige Unternehmungen wie die 1889 gegründete Budapester Orpheumgesellschaft. 1894 trat hier erstmals der aus Krakau (Krakow/PL) stammende Heinrich Eisenbach auf, der zum Starkomiker des Unternehmens wurde und – auch vom gestrengen K. Kraus mehrmals emphatisch gelobt – bis zu seinem Tod 1923 gefeierter Mittelpunkt der Programme war. Diese Programme bestanden aus einer bunten Folge von Soloszenen, Gesangsnummern, kleinen Einaktern und Possen, die der Lebenswelt des Leopoldstädter Publikums entsprachen und sich besonders mit allen Neuheiten und allem Modernen auseinander setzten. Der Unterhaltungsanspruch stand bei all diesen Bühnen stets im Vordergrund, u. a. wegen der unmittelbaren Anbindung an gastronomische Betriebe und deren Bedürfnisse. Die Kulinarik des Angebots äußerte sich dabei auch in der Betonung des keineswegs nur die Darbietungen begleitenden Musikprogramms. Geschäftlicher und nicht künstlerischer Misserfolg besiegelte folgerichtig auch das Schicksal vieler Wiener Kleinkunstbühnen. Die Erfolgreichen (neben den Budapestern beispielsweise Danzer’s Orpheum, die k. k. Gartenbau-Gesellschaft oder das Etablissement Ronacher) passten sich den Wünschen ihres Stammpublikums an und boten kaum (selbst)kritische Unterhaltung, dafür gab es „Jodler-Humoristen“ und die Zurschaustellung „lächerlicher“ Figuren verschiedenster Provenienz.

1901 wurde mit der Gründung des Jung-Wiener Theaters zum Lieben Augustin der Versuch unternommen, v. a. literarisch anspruchsvolles K. nach dem Vorbild von Ernst v. Wolzogens Berliner Überbrettl in Wien zu verankern (im selben Jahr übersiedelte A. Schönberg als Kapellmeister zu Wolzogen nach Berlin). „Angewandte Lyrik“ war das diesbezügliche Schlagwort, unter dem der v. a. als Feuilletonist bedeutende Autor Felix Salten zur Gründungstat schritt. Der erhobene kulturelle Anspruch kollidierte bald heftig mit dem Unterhaltungsgebot und führte auch zum letztendlichen Misserfolg dieser ambitionierten Unternehmung (besondere Ablehnung fand Frank Wedekinds Auftritt). Auch viele spätere Versuche, K. mit hohem künstlerischen Anspruch zu bieten, waren von diesem prinzipiellen Problem gezeichnet. Obwohl einzelne Bühnen zum Teil Hervorragendes boten (im 1906 gegründeten C. Nachtlicht verband sich die Tradition der Münchner Scharfrichter mit Wiener Beiträgen etwa von Peter Altenberg, K. Kraus und Egon Friedell, hier und besonders in der 1907 gegründeten Fledermaus arbeitete man mit Künstlern der Wiener Werkstätte zusammen, führte etwa auch K.-Untypisches wie Jean Jacques Rousseaus Singspiel Le devin du village auf, bot sogar dem „Oberwildling“ Oskar Kokoschka Auftrittsmöglichkeiten und hatte mit E. Friedell und Alfred Polgar höchstrangige Satiriker), blieb der überwiegende Anteil der Wiener Kleinkunstbühnen (v. a. im Rahmen der großen Unterhaltungsunternehmen wie Carl Schwenders Vergnügungsetablissement [Wien XV bzw. XII] oder Johann Weigls) dem oberflächlichen Unterhaltungsbedürfnis verpflichtet.

Die K.s versicherten sich auch der Mitarbeit von namhaften Musikern: I. Brüll, Hugo Felix (Pseud. für Hugo Felix Heymann) und Bogumil Zepler komponierten für Saltens Lieben Augustin, Hans Richard Weinhöppel (Bühnenname Hannes Ruch) war der Hauskomponist im Nachtlicht und arbeitete auch für die Fledermaus, wo Käte Hyans altmodische Lieder zur Guitarre Furore machten, G., E. und B. Wiesenthal tanzten und die Geschwister Nagl (Amalie „Maly“, später Nagl-Wolfsecker und Maria „Mizzi)“ mit Wienerliedern reüssierten, bis H. Reinhardt als künstlerischer Leiter die Wende zum Operetten- und Schwanktheater einleitete. In der 1906 gegründeten Hölle wurden neben genretypischen Szenen v. a. Einakter und Dramoletts aufgeführt (komponiert u. a. von E. Eysler, dem Hauskomponisten B. Laszky, J. Bayer und F. Lehár, der 1908 mit Mitislaw der Moderne ein einaktiges Remake der Lustigen Witwe präsentierte), aber auch Opern- und Operettenparodien. Zu den Textautoren dieser Bühne gehörte auch F. Grünbaum und M. Mars, die Gattin von B. Laszky, war der gefeierte weibliche Bühnenstar. 1910 wechselten Laszky und Mars zur Fledermaus, wo mittlerweile auch der als Operettenkomponist bekannte L. Ascher wirkte. In der Hölle folgte ihnen R. Benatzky als musikalischer Leiter nach, auch H. May (recte Johann Mayer) und O. Stransky lieferten musikalische Beiträge. Voll auf Komödiantik und Sprachwitz setzte schließlich das 1912 als Bierkabarett Simplicissimus gegründete Simpl. Nach 1945 nicht mehr erreichte Höhepunkte waren die 1922 erfundenen und mittlerweile legendären Doppelconférencen Fritz Grünbaum – K. Farkas.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte 1914 den prinzipiellen Mangel an tatsächlicher Kritik im Wiener C. deutlich unter Beweis, als sich auch auf den C.-Bühnen die patriotisch-kaisertreuen Töne unüberhörbar vernehmen ließen. Ganz in Übereinstimmung mit der k. u. k. Propagandamaschinerie geißelten die Satiriker das vorgeblich „treulose“ Italien und reimten z. T. sogar Bestialisches. Neben der kompromisslos überragenden Haltung von K. Kraus wahrte lediglich Alfred Polgar hier Distanz, während auf den Wiener Unterhaltungs- undC.-Bühnen fast die gesamte Kriegsdauer hindurch Publikumserfolge wie Marianka’s Feldpostbrief (T: F. Grünbaum, M: R. Stolz) oder patriotisch-unterhaltsame Revuen vom Typus Viribus Unitis geboten wurden. Und auch ganz zu Kriegsende blieben besinnliche und gar kritische Töne in Wiener C.-Kreisen die Ausnahme. Über die tristen Nachkriegszeiten versuchten sich die Wiener C. zumeist „hinwegzuwitzeln“ (Veigl), das Unterhaltungsbedürfnis dominierte erneut, sodass A. Polgar das Bild vom „fidelen Grab an der Donau“ prägen konnte (Fröhliche Apokalypse). Auch die Besteuerung der Unterhaltungsetablissements durch den sozialdemokratischen Stadtrat Hugo Breitner („Breitner-Steuern“) war des öfteren Objekt kabarettistischer Überlegungen. C.-Programme wurden oft zu Ausstattungs-Revuen (etwa 1926 im Stadttheater in der Skodagasse [Wien VIII], geleitet von F. Grünbaum und K. Farkas, oder in Gestalt der erfolgreichen Marischka-Revuen), bei denen vermehrt nostalgisch das alte Österreich verklärende Tendenzen zum Vorschein kamen. Kinoboom (Film) und Weltwirtschaftskrise bedeuteten für diese Form des Unterhaltungs-C.s vielfach das Ende.

Die zunehmende politische Polarisierung in der Zwischenkriegszeit spiegelte sich bald auch in den Wiener C.s wider. Es kam dabei sogar zur Gründung parteipolitisch engagierter Bühnen und Ensembles, besonders auf Seiten der Sozialdemokratischen Partei. Unter den Textdichtern ragt J. Soyfer hervor, für die musikalische Umsetzung bediente man sich des Parodieverfahrens, wobei Tagesschlager (etwa von H. Leopoldi, der selbst in C.s auftrat und verschiedene Bühnen musikalisch versorgte), aber auch „Klassisches“ herangezogen wurden. Auch die Favoritner Volksbühne (im Arbeiterheim untergebracht) brachte neben Operetten (dies sehr zum Ingrimm von K. Kraus) und Lustspielen C.-Programme (etwa mit Grünbaum) zur Aufführung. Eine Sonderstellung nehmen die Auftritte von K. Kraus ein; vor meist ausverkauften Konzertsälen (besonders häufig im Großen Konzerthaussaal!), aber auch vor Arbeiterpublikum (bis zu seinem Zerwürfnis mit der sozialdemokratischen Kulturpolitik über den Fall Imre Bekessy) brachte er im Rahmen seiner Lesungen auch „Zeitstrophen“ (v. a. mit Musik von J. Offenbach) nach Offenbach und J. N. Nestroy. Kraus nahm hier in der Tradition der französischen Operette in der Form des Couplets zu Zeitthemen Stellung. Diesem politisch in unterschiedlichen Graden engagierten C. stand die weiterwirkende starke Tradition des Unterhaltungs- und Lachtheaters gegenüber, und auch das „Jargontheater“ nach dem Vorbild der Budapester lebte im Max und Moritz fort. Die besonderen Stars der Szene waren die Conferenciers (neben den schon genannten Zentralfiguren Grünbaum und Farkas: Erwin Engel, Paul Morgan, Armin Berg und Fritz Wiesenthal).

1924 begann für Wien das Radiozeitalter (Rundfunk) und auch Kabarettisten traten zuweilen im neuen Medium in Erscheinung. Für St. Kadmons Lieben Augustin bedeutete eine RAVAG-Übertragung überhaupt eine entscheidende Förderung. Der Liebe Augustin (gegründet 1931) wurde neben der Literatur am Naschmarkt (gegründet 1933) zur wichtigsten K.-Bühne Wiens bis zum März 1938, als die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten dem Wiener K. den Todesstoß versetzte. Pointierte und engagierte Zeitkritik mischte sich im Lieben Augustin mit den skurril-sarkastischen Texten des Hausdichters P. Hammerschlag. Seine „Blitzgedichte“ und „Blitzparodien“ auf Publikumszuruf fanden ihre klingende Entsprechung in den musikalischen Blitzparodien F. E. Kleins, gemeinsam mit dem Gründungsmitglied Fritz Spielmann St. Kadmons Hauskomponist. Der aus Nazideutschland geflüchtete Hugo F. Koenigsgarten stieß zum Ensemble und erweiterte das Programm durch einaktige literarische Parodien (Dreimal Faust, Romeo und Julia) und seit 1935 brachte der ebenfalls aus Deutschland emigrierte Gerhart Herrmann (Bühnenname G. H. Mostar) in Form seiner Parabeln zusätzliches antinazistisches politisches Engagement ein.

Residierte der Liebe Augustin im Souterrain des Café Prückel (Wien I), so war der Keller des Dobner die Spielstätte der Literatur am Naschmarkt, deren politische Linie sich deutlich von St. Kadmons Bühne unterschied („liberal“ wollte man sein, „linke Schlagseite“ vermeiden, zudem sah man sich „pro-österreichisch“ und immerhin „gegen jede Diktatur“ ausgerichtet). Der Bund junger Autoren Österreichs mit seinem Obmann R. Weys hatte die Initiative zur Gründung dieses C.s unternommen, Die Stachelbeere (im Garten des Cafés Döblingerhof als Freilicht-K. bereits im Sommer 1933 gegründet) entstand ebenfalls aus diesem Kreis. Auch die Literatur am Naschmarkt hatte mit dem Regisseur Martin Magner einen deutschen Emigranten aufgenommen, für die musikalischen Belange sorgten A. Singer (recte Otto Andreas) und H. Horwitz. Die Bühne, die ihren Schwerpunkt in der literarischen Parodie sah, wurde bald zum Sammelbecken junger Wiener C.-Talente (C. Merz, Hans Weigel, Fritz Eckhardt, Kurt Nachmann, auch Heidemarie Hatheyer, Hilde Krahl oder Hugo Gottschlich traten hier in Erscheinung). Die „Mittelstücke“ (in der Mitte des Programms, nach und vor Nummern-C.s) von R. Weys u. a. waren die Säulen des Programms und schlossen an Volksstücktraditionen einerseits, an engagiertes zeitgenössisches Theater (Bertolt Brecht, Ödön v. Horváth) andererseits an. Auch J. Soyfer schrieb für die Literatur am Naschmarkt (Der Lechner Edi schaut ins Paradies 1936/37). Soyfers Texte waren jedoch für den Kurs des Ensembles um R. Weys nicht charakteristisch. Zu dieser Zeit schrieb er hauptsächlich für das deutlich links engagierte C. ABC (dort führten Leon Askin [recte Leo Askenasy] und nach ihm Rudolf Steinboeck Regie), darunter auch Weltuntergang, sein zeitlebens größter Erfolg. Im ABC begannen auch die Karrieren von C. Kraner und Josef Meinrad, für die Musik im Stil K. Weills zeichnete J. Berg verantwortlich.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 sollte sich in keiner Kunstgattung so katastrophal äußern wie im K. Es ist nicht übertrieben, hier vom Versuch eines systematischen Kahlschlags zu sprechen. Die bekannten Wiener K.isten gehörten zu den ersten Verfolgten des braunen Terrors und wer sich nicht rechtzeitig in die Emigration (Exil) retten konnte, fiel den Nazischergen zum Opfer: F. Grünbaum, J. Soyfer (er schrieb in der Lagerhaft das den NS-Zynismus demaskierende Dachaulied); F. Löhner-„Beda“ (er dichtete im Konzentrationslager das Buchenwaldlied, vom gerade noch davongekommenen H. Leopoldi später vertont), P. Hammerschlag, E. Friedell, P. Morgan, F. E. Klein und viele andere kamen im NS-Terror um. E. Engel und Anton Kuh starben in der Emigration. Die emigrierten Kabarettisten (darunter K. Farkas, Armin Berg und St. Kadmon) überlebten das NS-System und den Weltkrieg teils in den USA, Palästina und Großbritannien, teils verschlug es sie bis nach Shanghai/RC.

In den Emigrationsländern bildeten sich auch deutschsprachige K.-Ensembles, deren Programme auf die politische Lage reagierten, ein antifaschistisches Österreich für die Zeit nach dem Krieg entwarfen und solcherart nachhaltige und positive Vorleistungen für ein neues, demokratisches Österreich erbrachten. Zu diesen Aktivitäten gehörten beispielsweise die Bemühungen österreichischer Emigranten in Sendungen des britischen Rundfunks (etwa im Österreichischen Freiheitssender), die von P. Herz konzipierten Theaterprogramme des Blue Danube Club in London, die ebenfalls in London situierte Exilbühne Laterndl, die Freie Bühne in Los Angeles (am Klavier saß der junge Emigrant G. Kreisler) und die C.-Gruppe um H. Wiener in Caracas/YV. Bis auf wenige Ausnahmen kehrten die emigrierten Wiener K.isten nach Kriegsende sehr schnell nach Wien zurück; in ganz direkter Weise von der Sprache abhängig, hatte sie die Emigration auch künstlerisch besonders getroffen.

Während der NS-Herrschaft bestand in Wien dennoch eine Kleinkunstbühne mit k.istischem Anspruch, das Wiener Werkel (im Simpl regierte das Lachtheater, als Luftschutzkeller „umgewidmet“, wurde das Lokal jedoch bis kurz vor Kriegsende bespielt). Adolf Müller-Reitzner, Ensemblemitglied der Literatur am Naschmarkt und (was wohl besonders förderlich war) NS-„Parteianwärter“, sammelte die in Wien verbliebenen und nicht der Verfolgung zum Opfer gefallenen K.isten und eröffnete im Jänner 1939 in der ehemaligen Revue-Bar Moulin Rouge in der Liliengasse (Wien I) das Wiener Werkel. Zu den Textern R. Weys und Franz Paul (er hatte im ABC mitgewirkt) stießen bald auch die untergetauchten, weil den „rassischen“ Kriterien nicht voll entsprechenden F. Eckhardt und K. Nachmann, deren Texte unter Tarnnamen aufgeführt wurden. Als Schauspieler traten v. a. Mitglieder der ehemaligen Literatur am Naschmarkt, aber auch des Lieben Augustin (Walther Varndal) und des ABC (J. Meinrad) auf. Müller-Reitzner selbst trat als Regisseur und Interpret „wienerischer Figuren“ (Veigl) in Erscheinung. Dem Werkel gelangen trotz strenger Kontrollen durch die Behörden einige deutlich regimekritische Programme, etwa Eckhardts Das chinesische Wunder (hier wird der NS-Perfektionsmanie das berühmte „mir wern’s scho demoralisiern“ entgegengesetzt). Zwischen „nörgelnder Anpassung und hintergründigem Widerstand“ (Veigl) lavierend konnte das Wiener Werkel bis zur allgemeinen Theatersperre mit 1.9.1944 den Betrieb aufrechterhalten.

Bereits am 18.5.1945 nahm das Simpl wieder den Spielbetrieb auf (Ernst Waldbrunn sprach einen Nachruf auf F. Grünbaum), bald darauf wurden Bühnen wie der Liebe Augustin wiedereröffnet (zunächst von F. Eckhardt geleitet, der später von C. Merz abgelöst wurde und 1948/49 von der aus der Emigration zurückgekehrten St. Kadmon in das Theater der Courage umgewandelt). Unter der Leitung von Rolf Olsen stand das neue Kleine Brettl in der Rotgasse (Wien I; es bestand bis 1948), und mit dem Studio der Hochschulen etablierte sich bereits vier Wochen nach Kriegsende eine neue, junge Form von Kleinkunstbühne. Die neuen Programme trugen Titel wie Wir lachen wieder und Wir lachen täglich, das Unterhaltungsbedürfnis dominierte verständlicherweise. A. Steinbrecher und H. Weigel (Letzterer aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt) kreierten für das Kleine Haus des Theaters in der Josefstadt ab 1947 über 200 Programme mit dem Titel Seitensprünge, gefolgt von der Programmserie Entweder-Oder 1949. 1950/51 wurde das Wiener Werkel unter diesem Namen wiedereröffnet (seit 1945 hatte es Literatur im Moulin Rouge geheißen).

Das Studio der Hochschulen war aus dem Kulturreferat der demokratischen Studentenselbstverwaltung unmittelbar nach Kriegsende hervorgegangen und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, als Eckpfeiler des jährlichen Programms neben je einem Nestroy und Shakespeare ein C.-Programm zu erarbeiten. Das Studio musste ohne Subventionen auskommen, Gagen gab es nicht, lediglich durch die Zusammenarbeit mit Institutionen der Wiener Volksbildung und kleine Tourneen (etwa in das Salzkammergut) konnte man sich über Wasser halten. Im Studio traten u. a. M. Kehlmann und H. Qualtinger auf (Letzterer hatte bereits 1946 in C. Merz’ Der Basilisk K.-Erfahrungen gemacht) und auch mit Textbeiträgen in Erscheinung. Kehlmann übernahm 1950 das Experiment, Theater der 49 im Konzerthaus, welches er in Kleines Theater im Konzerthaus umbenannte, und brachte dort zu Weihnachten 1950 gemeinsam mit H. Qualtinger und C. Merz die Kabarettrevue Blitzlichter heraus (unter den Mitwirkenden war bereits L. Martini). Beim nächsten Programm (Reigen 51, eine sehr freie Bearbeitung Schnitzlerscher Motive und sehr erfolgreich) steuerte G. Bronner die Musik bei. Bronner war 1948 aus der Emigration in Palästina nach Wien zurückgekehrt, als Pianist in der Marietta-Bar tätig, bereits als Gast im Simpl aufgetreten und arbeitete fortan mit der Gruppe um Kehlmann und Qualtinger zusammen. Mit Brettl vorm Kopf landete die Gruppe im November 1952 ihren ersten großen Erfolg (Der g’schupfte Ferdl wurde, für eine C.-Nummer bis dato völlig undenkbar, ein wirklicher Schlager und fand sogar Aufnahme in die „Wurlitzer“-Repertoires). Allerdings kam es bereits 1953 zu einer Unterbrechung dieser erfolgreichen Zusammenarbeit, weil Bronner und Kehlmann als Leiter der Musikabteilung bzw. als Regisseur zum Norddeutschen Rundfunk wechselten. Mit der Rückkehr Bronners 1955 kam es zu einer Wiederaufnahme der Zusammenarbeit, neu im Team waren die k.istischen Allrounder P. Wehle und G. Kreisler. Letzterer hatte im Exil in den USA u. a. Filmmusik komponiert und Erfahrungen im Showbusiness gesammelt. Als Pianist und Sänger war er in New Yorker Lokalen aufgetreten, wobei er vom amerikanischen Satiriker Tom Lehrer beeinflusst wurde (dessen Poisoning Pidgeons in the Park wurde in Kreislers wienerischer Variante Tauben vergiften im Park legendär).

Bronner und Kreisler pachteten 1956 das Intime Theater und brachten dort mit dem Programm Blattl vorm Mund die nächste Erfolgsrevue heraus, im Jahr darauf gefolgt von Glasl vorm Aug (erstmals mit den „Travnicek“-Szenen, verkörpert von H. Qualtinger und G. Bronner). Das nächste Programm Spiegel vorm Gsicht wurde im noch jungen Fernsehen übertragen (auch dies eine Novität in der Wiener C.-Geschichte) und sicherte dem (noch immer namenlosen) Ensemble breiteste Bekanntheit. 1958 schied Kreisler aus der Gruppe aus und ging mit seiner Frau, der Chansonette T. Küppers nach München, später nach Berlin. Bronner zog mit dem Ensemble 1959 in das Neue Theater am Kärntnertor ein, wo mit Dachl überm Kopf und Hackl vorm Kreuz zwei weitere Erfolgsprogramme produziert wurden. Mit dem Abgang H. Qualtingers (er sprach von der „Vernichtung durch Anerkennung und Applaus“) war 1961 jedoch das Ende dieses in der Wiener K.-Geschichte einzigartig erfolgreichen Ensembles gekommen.

An diesem für C.-Maßstäbe ganz unüblichen Breitenerfolg war der musikalische Aspekt ganz besonders stark beteiligt. In G. Bronner und G. Kreisler hatte dieses Ensemble zwei hervorragende Musikerpersönlichkeiten mit tatsächlich eminentem musikalischem Ehrgeiz zur Verfügung. Besonders G. Bronner wies dem musikalischen Anteil eine überragende Bedeutung zu und trug sich auch mit Plänen, nach US-Vorbild ein „Wiener Musical“ zu schaffen. Die C.-Schlager Bronners zeigen einerseits den souveränen Umgang mit den Ausdrucksformen der gehobenen jazznahen Unterhaltungsmusik (namentlich ist eine deutliche Affinität zu George Shearing und Nat „King“ Cole feststellbar), andererseits den effektvollen Einsatz der musikalischen Parodie, v. a. im Umgang mit musikalischem Material der „Hochkultur“ zwischen J. Strauß und Maurice Ravel. Auch die Interpretation durch die K.isten zeugt von hohem musikalischem Einsatz. Der Marlon Brando mit seiner Maschin, Der Papa wird's scho richten und die Wienerlied- und Wienerherzparodie Die alte Engelmacherin sind dafür deutliche Beispiele.

Im inhaltlichen Bereich zeigt sich hingegen ein widersprüchliches Bild: Tatsächliche Zeit- und Gesellschaftskritik in teilweise sehr drastischer Form (beispielsweise in den Bereichen „Wien-Klischee“, Hochkulturkritik, Habsburger-Mythos und Korruption) steht einer unverhohlenen Nähe zu Positionen des (klein)bürgerlichen common sense gegenüber, Letzteres speziell bei den Themen „Jugend“ und Kriminalität. G. Kreislers Beiträge sind hiervon jedoch ausdrücklich auszunehmen. Qualtingers zitiertes „Scheitern am Erfolg“ könnte so (zumindest bei Kreisler und Qualtinger) auch Konsequenz aufgrund des Beifalls von unerwünschter Seite gewesen sein.

Nach Qualtingers Ausscheiden führte Bronner sein Theater mit Gastspielen des Grazer Studenten-C.s Der Würfel und gemeinsam mit P. Wehle gestalteten Programmen bis 1966 weiter. Neben regelmäßigen Sendereihen im Radioprogramm des ORF (darunter die langjährige Reihe Schlager für Fortgeschrittene und die Sonntagskabarettsendung Guglhupf) übersetzte Bronner auch bekannte US-Musicals wie C., Alexis Sorbas u. a., entdeckte K.-Talente wie L. Krainer und schrieb mit Wie a Glock’n (Musik vom Jazz-Saxophonisten H. Salomon, gesungen von M. Mendt) einen der ersten erfolgreichen Dialekt-Hits. Die kompositorische Tätigkeit Bronners erstreckte sich auch auf das Wienerlied (nach H. Weigels Gebot „ohne Schmalz“).

Eine derartig enge und erfolgsträchtige Verbindung zwischen k.istischem Text und eingängiger Musik wurde im Wiener K. seither nicht mehr erreicht. Einige Bedeutung hatte das Wiener C. der 1950er Jahre auch für andere populäre Musikbereiche, beispielsweise in der frühen Phase des „Austropop“ (Da Hofa [W. Ambros] lässt beispielsweise deutlich Motive von Qualtinger und Kreisler anklingen, A. Heller nahm mit Qualtinger in der klischeekritischen K.-Tradition eine Platte mit Wienerliedern auf) oder im Bereich der neueren Wiener Musik (besonders bei R. Neuwirth). Die jüngere Wiener C.-Szene im engeren Sinn orientiert sich vorrangig am traditionellen Chansonstil und ist inhaltlich um schärfere Konturen bemüht, wobei (im scharfen Gegensatz zum weitgehend unkritischen Lachtheater des nachfarkasischen Simpl-Stils) auch Themen mit hohem Konfliktpotential nicht gescheut werden. Mit L. Resetarits, Hans-Peter Heinzl, I Stangl, Josef Hader und Dolores Schmidinger kam es seit Beginn der 1980er Jahre zu einer Renaissance des kritischen K in Wien. Neueröffnungen von K.-Bühnen und nicht zuletzt die Rezeption k.istischer Stilmittel auch im österreichischen Film (Kottan ermittelt, Müllers Büro, Muttertag, Freispiel u. a., z. T. mit K.isten als Darstellern, auch in TV-Serien wie Kaisermühlenblues) indizieren die gestiegene Attraktivität des Genres in der Öffentlichkeit.


Literatur
(Alphabetisch:) M. Altfahrt in Wr. Geschichtsbll. 38/3 (1983); L. Appignanesi, Das K. 1976; A. Berg, „In Wien viel Neues“. Das lustige Buch von Armin Berg [o. J.]; K. Budzinski, Die Muse mit der scharfen Zunge. Vom C. zum K. 1961; K. Budzinski, Pfeffer ins Getriebe. So ist und wurde das K. 1982; K. Budzinski, Das K. 100 Jahre literarische Zeitkritik gesprochen – gesungen – gespielt 1985; B. Dalinger, Jüdisches Theater in Wien, Dipl.arb. Wien 1991; B. Dalinger, Verloschene Sterne. Leben des jüdischen Theaters in Wien, Diss. Wien 1995; J. Doll, Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers 1997; G. Eberstaller, Zirkus und Varieté in Wien 1974; G. Eberstaller,Ronacher. Ein Theater in seiner Zeit 1993; H. Eisenbach, Anekdoten [21 Folgen] 21905–09; Fink 2000; Ch. Glanz in C. Szabó-Knotik (Hg.), Wien – Triest um 1900. Zwei Städte – eine Kultur? 1993; L. Gottsleben,50 Jahre Komiker 1910; Groner, Wien wie es war 51965; E. Günther, Gesch. des Varietés 1978; H. Hakel, „Wigl Wogl“. K. und Varieté in Wien 1962; E.-M. Haybäck, Der Wr. „Simplicissimus“ 1912–1974, Diss. Wien 1976; M. Kiegler-Griensteidl/V. Kaukoreit (Hg), Kringel, Schlingel, Borgia. Materialien zu Peter Hammerschlag 1997; F.-P. Kothes, Die theatralische Revue in Berlin und Wien 1900–1938, 1977; G. Kreisler, Die alten bösen Lieder 1989; V. Kühn, Das K. der frühen Jahre 1984; V. Kühn, „Mir ist heut’ so nach Tamerlan“. Rudolf Nelson – 50 Jahre Kleinkunst 1999; H. Lederer, „Bevor alles verweht…“. Wr. Kellertheater 1945 bis 1960, 1986; H. Magschock (Hg.), Rote Spieler. Blaue Blusen 1983; H. Mandl, C. und Courage. Stella Kadmon – Eine Biographie 1993; G. Markus, Karl Farkas „Schau’n Sie sich das an“ 1983; W. Muchitsch, „Mit Spaten, Waffen und Worten“. Die Einbindung österr. Flüchtlinge in die britischen Kriegsanstrengungen 1939–1945, 1992; R. Otto/W. Rösler, K.geschichte. Abriß des dt.sprachigen K.s 1977; W. Rösler, Das Chanson im dt. K. 1901–1933, 1980; W. Rösler, „Geh’n ma halt ein bisserl unter“. K. in Wien von den Anfängen bis heute 1991; D. Sattlegger, Kultur der Unterhaltung. Versuch einer Darstellung der Musik im K. in Wien von 1901–1908, Hausarb. Wien 1982; F. Scheu, „Humor als Waffe“. Politisches K. in der Ersten Republik 1977; L.-E. Seelig, Ronacher. Die Gesch. eines Hauses 1986; O. Teller, „Davids Witz-Schleuder“. Jüdisch-Politisches C. 50 Jahre Kleinkunstbühnen in Wien, Berlin, London, New York, Warschau und Tel Aviv 1985; H. Veigl, „Entwürfe für ein Grünbaum-Monument“. Fritz Grünbaum und das Wr. K. 2001; H. Veigl, Armin Berg. Der Mann mit dem Überzieher 1990; H. Veigl, Luftmenschen spielen Theater. Jüdisches K. in Wien 1890–1938, 1992; H. Veigl, Lachen im Keller. K. und Kleinkunst in Wien 1986; G. Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919, 2002; H. Weigel, Gerichtstag vor 49 Leuten. Rückblick auf das K. der dreißiger Jahre 1981; Ch. Werba, Das Wr. K. im Zeichen des Jugendstils, Diss. Wien 1976; R. Weys, Literatur am Naschmarkt. Kulturgesch. der Wr. Kleinkunst in Kostproben 1947; R. Weys, C. und K. in Wien 1970.

Autor*innen
Christian Glanz
Letzte inhaltliche Änderung
16.2.2023
Empfohlene Zitierweise
Christian Glanz, Art. „Kabarett, Cabaret‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 16.2.2023, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001d360
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.

MEDIEN
Wiener Bilder, 25.7.1920, 10 (sibirisches Kriegsgefangenenlager Chabarowsk)© ANNO/ÖNB
Titelblatt zu Programmheft des Theater-Kabaretts ‚Hölle‘ (1923) nach Entwurf von Heinrich Lefler. Theatermuseum Wien, Inv.-Nr. PA_Rara G 562© KHM-Museumsverband, CC BY-NC-SA 4.0

DOI
10.1553/0x0001d360
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