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Wiener Klavierschule
Bezeichnung für eine spezifische Art und Tradition des Klavierspiels. Sie kann erstmals sinnvoll auf die Situation um die Wende vom 18. zum 19. Jh. angewendet werden und ist eng mit zwei grundsätzlich verschiedenen Entwicklungen im Klavierbau verbunden: Die im süddeutschen Raum, insbesondere in Wien perfektionierte (und als solche nicht mehr wesentlich ausbaufähige) Prellmechanik und die in England weiterentwickelte (ausbaufähige) Stoßzungenmechanik hatten unterschiedliche Spielweisen zur Folge. In seiner Betrachtung der Entwicklungen in der 1. Hälfte des 19. Jh.s beschreibt Adolph Kullak den Gegensatz: „Dazu kommt das Überhandnehmen der englischen Instrumente. Der poetischere, farbenreichere Ton der Wiener Mechanik, der trotz seiner Schwäche den leisesten Bebungen der Fingerspitze viel biegsamer und empfindsamer entgegenkam, weicht dem glänzend, prall und groß anschlagenden Concerttone des englischen Mechanismus. In dem Maaße, als die Hand aufhört, ein von den feineren Pulsschlägen der Psyche beseelter Organismus zu sein, und nur sinnlich künstlicher Mechanismus ist, muss auch dem Glanz des Klaviertones die Kunst des Instrumentenbaus vorarbeiten. Der sinnliche Effekt des Tones liegt schon in der Klaviermechanik, die Hand braucht keine besondere Kunst zu entfalten, um ihm diese Seite abzugewinnen. [...] Der Spieler muss sich erst von dem bei der Wiener Mechanik nothwendigen feineren Nervengefühle entwöhnen, und alle Färbungen in ein gröberes, aber sinnlich effektvolleres Material übertragen lernen. So kommt es denn, daß auch der Geist der Komposition ein anderer wird.“ (Kullak, S. 32)

Der Tendenz der Zeit entsprechend, historische Entwicklungsprozesse an Einzelpersonen deutlich zu machen, stellte bereits A. Kullak (1861) W. A. Mozart und M. Clementi gegeneinander. „Was Clementi von Mozart unterscheidet, ist der Gegensatz der englischen und Wiener Richtung, die, von dem Mechanismus der Instrumente ausgehend, auch auf den Charakter Einfluß ausübt. Mozart, als Repräsentant der Wiener Schule, prägt Leichtigkeit, Grazie, Glanz, Lebhaftigkeit aus. Die leichte Mechanik des Instruments begünstigte dies. Clementi, gewöhnt an den tieferen Fall, das schwere Herabdrücken der Tasten, den langsingenden und vollen Ton des englischen Mechanismus, hatte eine gehaltene, ernste, eigentlich großartige Richtung in Spiel und Komposition.“ (Kullak, S. 23)

Bei aller zeitbedingten Vereinfachung beinhalten seine Ausführungen den Instrumentenbau als Ausgangspunkt sowie die damit zusammenhängenden Schwerpunktsetzungen in Klang und Ausdruck. Die daraus folgenden, im Verlauf des 19. und beginnenden 20. Jh.s beobachtbaren Richtungsstreite im Hinblick auf die Technik des Klavierspiels lassen sich auf Grund dieser Aussagen besser verstehen und in einen historisch weiteren Zusammenhang stellen. Außerdem wird deutlich: Im Bereich des Klaviers sind unterschiedliche Überlegungen zur Klangerzeugung und Spieltechnik (bis heute) nicht zu trennen von oft sehr hart geführten Diskussionen über Wert oder Unwert von Kompositionen bzw. Richtigkeit oder Falschheit von Interpretationen – und das in weitaus höherem Maß als etwa bei Streich- oder Blasinstrumenten. Die Frage der Begründung ist noch offen, doch dass die auf das Generalbasszeitalter zurückgehende Rolle des die Gesamtheit des musikalischen Ablaufs überblickenden Akkompagnisten für diese Tradition von Belang sein könnte, sei zumindest angedeutet.

Kann zunächst J. N. Hummel als Schüler W. A. Mozarts als prominenter Weiterführer der W. K. im genannten Sinne verstanden werden, so änderte sich die Situation abermals mit dem Auftreten L. v. Beethovens. Geprägt durch die von der österreichischen Tradition in vieler Hinsicht abweichende Gedankenwelt C. Ph. E. Bachs, in Wien in Kontakt mit J. Haydn, J. G. Albrechtsberger, A. Salieri, mit viel Sympathie für die Etüden J. B. Cramers, der dem Clementi-Stil nahe stand, als Komponist radikal neue Wege gehend, verband er in gewisser Weise auch die beiden gegensätzlichen Klavierschulen. Da Beethovens Schüler C. Czerny und – in nicht zu unterschätzendem Maße – der dem Beethovenkreis zugehörige A. Halm als Lehrer größten Einfluss auf die Folgezeit ausübten, lassen sich über die in Wien wirkenden Klavierpädagogen direkte Linien bis in das 20. Jh., im Falle der von Czerny ausgehenden Entwicklung bis in unsere Gegenwart ziehen. Es muss allerdings gesagt werden, dass W. K. dabei nie ein kontinuierlich weitergeführtes System darstellt: es handelt sich vielmehr eher um Schwerpunktsetzungen, die innerhalb von überregionalen, internationalen Entwicklungen, die oft sehr komplex sind, immer wieder auf den Anfang um 1800 zurückweisen und dem in Wien klavieristisch Gelehrten und Produzierten spezifische Färbungen verleihen.

Unter den Schülern C. Czernys haben v. a. F. Liszt und Th. Leschetizky, unter denen von A. Halm J. Fischhof, J. Epstein und J. Dachs (der auch bei Czerny Unterricht nahm) durch ihre Lehrtätigkeit der weiteren Entwicklung des Klavierspiels durchaus unterschiedliche Wege gewiesen, wobei mit Ausnahme von Liszt alle eben Genannten einen großen Teil ihres Lebens in Wien verbrachten und dem musikalischen Denken dieser Stadt ihren Stempel aufdrücken konnten.

Die drei verschiedenen Haltungen seien hier (z. T. vereinfacht) skizziert: Wie in seinen Werken repräsentierte F. Liszt auch als Klavierspieler den risikobereiten Neuerer und vermittelte diese Haltung seinen Schülern: Subjektivität und Großzügigkeit in der Gestaltung, Abgehen vom reinen Fingerspiel zu Gunsten des verstärkten Einsatzes von Armen und Schultern führten einerseits zu neuen Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks und pianistischer Akrobatik, aber auch zu einem Musikertypus, dem die Inszenierung des Spiels in der sichtbaren Bewegung wichtig war (Virtuose).

Durchaus nicht unbeeinflusst von den Tendenzen der Liszt-Schule, versuchte Th. Leschetizky die Forderungen der damaligen „neuen“ Musik mit der auf Czerny zurückgehenden Tradition zu verbinden. Das hatte technisch zur Folge, dass er am Fingerspiel ohne wesentlichen Einsatz von Arm und Schulter festhielt, was ihm von Gegnern den Vorwurf eintrug, altmodisch zu sein. Leschetizky selbst behauptete von sich, keine eigene Schule zu repräsentieren; sein Anliegen war, den Spielstil seiner Schüler aus deren Individualität zu entwickeln. Dass ihm das gelang, zeigen seine vielen, bis weit in das 20. Jh. wirkenden Schüler, unter ihnen Elly Ney, Mark Hambourg, Ossip Gabrilowitsch, Benno Moiseiwitsch, A. Schnabel, Kathryn Goodson, I. Friedman, Annette Essipoff und I. Paderewski.

So unterschiedlich Liszt und Leschetizky in vielem dachten, so gut lassen sich viele ihrer und ihrer Schüler Ansätze auf Anschauungen zurückführen, die schon ihr gemeinsamer Lehrer C. Czerny vertreten hatte. V. a. die reiche Anwendung agogischer Mittel zur Umsetzung musikalischer Verläufe stellt eine Weiterführung von Ideen dar, wie sie Czerny im dritten Teil seiner Klavierschule formuliert hatte und die nach allem, was wir wissen, auch für das Klavierspiel Beethovens charakteristisch waren. Übrigens geht auch die besonders von Leschetizky praktizierte Trennung des pianistischen Arbeitsprozesses in technische Bewältigung und nachfolgende künstlerische Vertiefung, auf pädagogische Ansichten Czernys zurück, die ihrerseits gut zu entsprechenden Äußerungen Beethovens passen. So schrieb dieser: „Mein lieber Czerny! [...] In Rücksicht seines [gemeint ist Beethovens Neffe Carl] Spielens bei Ihnen, bitte ich Sie, ihn, wenn er einmal den gehörigen Fingersatz nimmt, alsdann im Takte richtig, wie auch die Noten ziemlich ohne Fehler spielt, alsdann erst in Rücksicht des Vortrages anzuhalten [...] Obschon ich wenig Unterricht gegeben, habe ich doch immer diese Methode befolgt.“ (Czerny, Erinnerungen, S. 35f.) Von fortschrittlichen Pädagogen heutzutage stark angezweifelt, wird diese didaktische Haltung immer noch von vielen Klavierlehrern vertreten.

Inwieweit das künstlerische und pädagogische Selbstverständnis der Schüler A. Halms auf diesen selbst zurückgeht, ist schwer auszumachen. Tatsache ist, dass von ihnen ein ganz anderer Weg der Auseinandersetzung mit Klaviermusik beschritten wurde. Da die bedeutendsten unter ihnen als erste mit der Leitung von Klavierausbildungsklassen am 1816 gegründeten Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde betraut wurden (J. Fischhof 1833, J. Dachs 1860, J. Epstein 1867) und diese Funktion zum Teil bis in das beginnende 20. Jh. innehatten, muss deren Einfluss auf die in Wien entwickelte Tradition des Klavierspiels, wie sie weitgehend auch heute (2002) noch lebendig ist, sehr hoch veranschlagt werden. Anders als Czerny und seine Schüler, vertraten die Repräsentanten dieser Richtung eine eher „geradlinige“ Interpretationshaltung mit nur diskretem Rubato, klarer Darstellung der musikalischen Verläufe und Orientierung am notierten Text. Die persönliche „Auffassung“ dürfte ihnen weniger wichtig gewesen sein (was ihnen in der einschlägigen Literatur immer wieder den Vorwurf der Trockenheit eingetragen hat) als die „Seriosität“ der Darstellung. Diese Einstellung passt mit ihrem damals völlig unüblichen Interesse für die Musik vor Beethoven zusammen: J. Fischhof galt als kompetenter Interpret der Werke J. S. Bachs, J. Epstein als Mozart-Spezialist. Sie und ihre Kollegen am Wiener Konservatorium betätigten sich – auch das für Pianisten der damaligen Zeit ungewöhnlich – auf editorischem und musikwissenschaftlichem Gebiet: J. Epstein zeichnete zusammen mit A. Door und anderen als Herausgeber der Classiker-Ausgabe des Wiener Conservatoriums, die bei Crantz in Hamburg erschien, und beteiligte sich an der Erstellung der Gesamtausgabe der Werke Fr. Schuberts. Außerdem setzte er sich nachdrücklich für seiner Meinung zu Unrecht vergessene Komponisten und deren Werke ein. J. Fischhof schrieb einen Versuch einer Geschichte der Klavierbauer (Wien 1853) und arbeitete Über die Auffassung von Instrumentalkompositionen in Hinsicht des Zeitmaßes, namentlich bei Beethovenschen Werken (in Cäcilia 26 [1847]). Möglicherweise hat auch das starke Gewicht der Anschauungen der A. Halm-Schüler mit ihrer starken Akzentuierung der Wiener Klassik und ihrem engen Bezug zu den Kreisen um J. Brahms die inhaltliche Ausrichtung der pianistischen Ausbildung in Wien bis in die Gegenwart mitgeprägt.

Die Verschiedenartigkeit der musikalischen Denkrichtungen verhinderte zwar die Ausprägung einer eindeutig festlegbaren „Wiener Schule des Klavierspiels“ im engeren Sinne, führte aber über durch diese Situation stark geformte Einzelpersonen zu sehr farbigen und zukunftweisenden Entwicklungen in diesem Bereich. Als Beispiel sei A. Schnabel genannt, der sowohl bei H. Schmitt, einem Schüler von J. Dachs, studierte und dadurch vieles von der A. Halm-Linie mitbekam, als auch bei Th. Leschetizky, der die Czerny-Richtung weiterführte. Zusammen mit den Eigenschaften, die Schnabel selbständig einbrachte, konstituierte dies jene allseits bekannte Musikerpersönlichkeit, als die A. Schnabel als Pianist, Pädagoge und Herausgeber die Folgezeit mit großer Breitenwirkung beeinflusst hat.

Diese Vorgänge gaben den Entwicklungen im 20. Jh. Basis und Rahmen. Auch in Wien hinterließ der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s tobende Streit um die Frage, wie man sich am Klavier bewegen solle, seine Spuren: Über der Emotionalität, mit der die Debatte ausgetragen wurde, vergisst man leicht, dass man damals versucht hat, eine in der Vergangenheit oft sehr individualistisch behandelte Thematik zu versachlichen. Am wichtigsten wurden für die Zukunft die Thesen von Ludwig Deppe, Elisabeth Caland und v. a. Rudolf Maria Breithaupt, die sich, bei aller Gegensätzlichkeit im einzelnen, darin einig sind, dass das alte Fingerspiel bei sonstiger Ruhigstellung von Handgelenk und Arm, zu Gunsten eines ganzheitlichen Ansatzes überwunden werden müsse. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Tendenz zur Objektivierung auch Felder umfasste, die vorher eher der Sphäre subjektiven Erlebens zugeordnet wurden: der Versachlichung der Gestik entspricht die Versachlichung der Emotionen; diese Haltung schließt einerseits an Standpunkte der Zeit vor Beethoven an, gab andererseits im Fall der Wiener Schule des Klavierspiels der skizzierten Lehre der Halm-Schüler eine Chance und ergänzte sie durch neue Argumente. Daneben wirkten die durch Liszt und Leschetizky ins Leben gerufenen Richtungen weiter; es entstand eine sehr komplexe Situation, da sich die verschiedenen Sichtweisen nicht voneinander isoliert weiterentwickelten, sondern einander beeinflussten, auch andere Impulse aufnahmen und natürlich durch Einzelpersonen auf ihre jeweils individuelle und unverwechselbare Art repräsentiert wurden.

Unter diesen seien für die Zeit von 1900 bis 1938 die wichtigsten genannt, die als Pianisten, Privatlehrer oder Lehrer am Konservatorium (seit 1909 Akad.) tätig waren: Liszt-Schüler: E. v. Sauer, M. Rosenthal; Leschetizky-Schüler: V. Ebenstein, H. Kanner-Rosenthal (Rosenthal, Familie, P. Wittgenstein, Fr. Schmidt. In der Zwischenkriegszeit begann auch die Laufbahn von G. Hinterhofer (Schülerin von E. v. Sauer und Fr. Schmidt), P. Weingarten (Schüler von E. v. Sauer) und F. Wührer (Schüler von Fr. Schmidt, dessen Werke für die linke Hand er für zwei Hände bearbeitete). Einen Sonderfall stellen die Pianisten aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule dar: E. Steuermann, P. Stadlen, K. Steiner.

Das Verhalten und die künstlerischen Wertvorstellungen der in Wien während der Zeit des Nationalsozialismus wirkenden Pianisten und Klavierpädagogen seriös zu beurteilen, ist im vorliegenden Rahmen nicht möglich: das Thema bedürfte dringend einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Trotzdem müssen einige Punkte angesprochen werden – gerade weil sie die Situation nach 1945 wesentlich mitbestimmt haben: Mit der Annexion Österreichs durch Nazideutschland endete die Tätigkeit vieler Klavierpädagogen an der Akad.; ihre Namen seien hier vollständig angeführt: H. v. Andrásffy, L. Dité, Berta Jahn-Beer, Erna Kremer, Franz Moser, Edgar Schiffmann, Stella Tindl-Wang, P. Weingarten. V. Ebenstein schied 1939 aus, wobei er und Weingarten 1945 ihre Lehrtätigkeit wieder aufnahmen. Folgende Pianisten konnten auch nach 1938 ihre Lehrtätigkeit fortsetzen: G. Hinterhofer, Walter Kerschbaumer, Ferdinand Rebay, E. v. Sauer (bis 1942), Heinr. Schmidt (bis 1940), H. Weber, F. Wührer. Neu an die Akad. berufen wurden 1938: J. Dichler (Schüler von F. Rebay und Fr. Schmidt), Annemarie Heyne, Walter Panhofer, B. Seidlhofer (die beiden letztgenannten Schüler von Fr. Schmidt). Nach 1945 waren von den beiden letztgenannten Personengruppen weiterhin an der Akad. bzw. Hsch. tätig (z. T. bis weit in die 1970er Jahre): G. Hinterhofer, W. Kerschbaumer, J. Dichler, W. Panhofer, B. Seidlhofer.

Aus dieser Bestandsaufnahme geht hervor, dass es in den Jahren zwischen 1938 und den 1970er Jahren an der Wiener Akad. bzw. ihren Nachfolgeinstitutionen ein Kontinuum der Klavierlehre gibt, das sich letztlich bis in die Gegenwart erstreckt: Es sind Schüler und Enkelschüler dieser – z. T. sehr bedeutenden und erfolgreichen – Lehrerpersönlichkeiten, die auch heute den Großteil der an der Wiener MUniv. wirkenden Klavierpädagogen ausmachen. Es liegt daher die Frage nahe, inwieweit und in welcher Form künstlerische Kriterien, die sich 1938–45 entwickelten, auch auf die Wertvorstellungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Einfluss genommen haben. Die Ausklammerung wichtiger Komponisten, deren Werke aus politischen Gründen nicht gespielt und gelehrt werden durften, musste – gewollt oder ungewollt – bei den damals Studierenden zu einer sehr einseitigen Formung künstlerischen Geschmacks führen; dass trotzdem viele von ihnen während ihres späteren Wirkens diesen Rückstand mehr als aufholten, sei hier nachdrücklich und mit großem Respekt angemerkt.

Einen weiteren Faktor stellt die Tatsache dar, dass die Nationalsozialisten eine angebliche deutsche Innerlichkeit und Tiefe einer ebenso angeblichen Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit des Fremden gegenüberstellten und zur ideologischen Indoktrinierung benützten; auch das dürfte Spuren hinterlassen haben. Faktum ist etwa, dass in Österreich in den 1950/60er Jahren als „große“ Pianisten fast nur solche aus dem deutschsprachigen Raum gehandelt wurden: Wilhelm Backhaus, Edwin Fischer, Wilhelm Kempff etwa wurden zu Ikonen, während man von Pianisten wie Artur Rubinstein oder Vladimir Horowitz kaum etwas hörte. Die spektakuläre Aktion F. Guldas Ende der 1960er Jahre, als er in der Rede zur Verleihung des Beethovenrings die seiner Meinung nach damals in der Wiener Akad. herrschende inhaltliche Enge scharf kritisierte und sinngemäß erklärte, seine Karriere sei trotz seiner Lehrer erfolgreich verlaufen, kann – bei allem Vorbehalt und aus heutiger zeitlicher Distanz – als Ausdruck und Fokussierung des Unbehagens mit der Situation gesehen werden.

Jedenfalls ging, was in den ersten beiden Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs und danach in Wien gelehrt wurde, auf vielfache Wurzeln zurück. Dazu kam, dass die nach 1945 weiterwirkenden Lehrerpersönlichkeiten sich im Hinblick auf die Zukunft neu definieren wollten und mussten. G. Hinterhofer, P. Weingarten, W. Kerschbaumer, B. Seidlhofer, J. Dichler, W. Panhofer, Hermann Schwertmann und der 1947 neu berufene Weingarten-Schüler R. Hauser vertraten – bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Ansichten im einzelnen – einen Klavierstil, in dem Klarheit und Unaufwendigkeit der Darstellung, Verantwortlichkeit dem Urtext gegenüber und geringeres Wichtignehmen einer persönlichen „Auffassung“ zugunsten einer möglichst objektivierbaren Realisierung der Werke wesentliche Gesichtspunkte sind. Diese Tendenz zur Versachlichung zeigt sich sehr deutlich in den beiden noch immer wichtigen Büchern J. Dichlers: Der Weg zum künstlerischen Klavierspiel (Wien 1948) und Verstand und Gefühl (Wien 1965). Auch die Lehrer des 1945 neu gegründeten Konservatoriums der Stadt Wien trugen in bedeutsamer Weise diese Haltung mit: Viola Thern, Roland Raupenstrauch, Hans Bohnenstingl und später Helene Stadler-Sedo.

Es ist zu einem wesentlichen Teil das Verdienst der genannten Lehrer, dass die beiden Nachkriegsjahrzehnte eine ganz ungewöhnlich große Zahl international renommierter Pianistinnen und Pianisten hervorgebracht haben, u. a.: P. Badura-Skoda, R. Buchbinder, J. Demus, H. Graf, F. Gulda, I. Haebler, A. Jenner, H. Kann, W. Klien, Heinz Medjimorec, H. Petermandl, Dieter Weber.

Mit dem Beginn der Lehrtätigkeit von H. Graf, D. Weber, Eduard Mrazek und – etwas später – A. Jenner kam es an der Wiener MAkad. bzw. MHsch. zu einer starken Lockerung der inhaltlichen Einstellung: Skepsis gegenüber jeglichem Dogmatismus veränderte auch die Wertungen in Richtung einer großen Öffnung des gelehrten Repertoires. Dies half zunächst, einen Weg weiterzugehen, der für die W. K. seit ihren Anfängen kennzeichnend war, wenn auch die Ursachen dafür im Lauf der Zeit verschieden waren: nämlich Musiker sich aus ihrer Persönlichkeit heraus entwickeln zu lassen, den Studierenden Zeit zu geben, das für sie Kennzeichnende auszubauen und in sich das Unverwechselbare zu finden. Es ist in diesem Sinne ein großes Positivum, dass die Schüler der oben Genannten an ihrem Spiel nicht sofort als Repräsentanten einer bestimmten Schule erkannt werden können, weil sie zunächst und zuallererst sie selbst sind.

Gerade in dieser Hinsicht stellt die gegenwärtige (2002) Situation die für die Pianistenausbildung verantwortlichen Lehrer, von denen sehr viele gerade als ausübende Musiker die oben skizzierte Tradition repräsentieren, vor ein großes Problem: Die allseits diskutierte Globalisierung hat natürlich auch vor dem Bereich des Klavierspiels nicht haltgemacht. Besonders internationale Wettbewerbe als Selektionsmechanismen für Musikerkarrieren, die international sehr ähnlichen Auswahlkriterien von Managern und Veranstaltern sowie die technischen Perfektionsansprüche der Tonträgerindustrie zwingen dazu, allgemein formulierbare, den genannten Anforderungen entsprechende und damit überindividuelle Schwerpunkte in der Ausbildung zu setzen. Das alles läuft dem Aufbau eines individuellen Stils des Klavierspiels zuwider und trägt die Gefahr einer perfektionierten Eintönigkeit in sich. Dass es in Wien trotzdem eine beachtliche Anzahl von jungen österreichischen Pianistinnen und Pianisten gibt, die diesem Trend widerstanden haben, muss der in Wien stattfindenden Ausbildung hoch angerechnet werden. Einige von ihnen sind bereits selbst als Lehrer an einer der beiden großen Wiener Musikausbildungsinstitutionen tätig, wie D. Adam, R. Batik, P. Gulda und St. Vladar, andere sind gerade im Begriff, Musiker mit internationaler Reputation zu werden, wie T. Fellner, Christopher Hinterhuber und Gottlieb Wallisch. Ob allerdings ganz allgemein unter den gegebenen Umständen der Terminus einer deutlich abgrenzbaren W. K. noch sinnvoll ist, wird erst später gerecht beurteilt werden können.

Das Feld der Instrumentalpädagogik ist von den oben angesprochenen Zwängen nicht so stark berührt. In den letzten 25 Jahren konnte sich daher an der HSch. bzw. Univ. für Musik und darstellende Kunst in Wien in diesem Bereich eine ganz eigenständige Richtung der Klavierpädagogik entwickeln, die neue Akzente setzt: Auseinandersetzung mit der Musik der Avantgarde, mit der Aufführungspraxis Alter Musik, die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Musikausübung, die Einbeziehung neuer bildungs- und erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse sowie das Verständnis von Ausbildung als Diskussionsprozess sind wesentliche Punkte dabei.

Interessant ist dabei, dass auch die Personen, die diese Linie mittragen, zu einem sehr großen Teil immer noch aus den oben besprochenen Traditionen kommen, konzertierend aktiv sind und Absolventen zur Diplomprüfung führen, die oft neben ihrer Lehrtätigkeit als ausübende Pianisten sehr erfolgreich sind. Diese Tatsachen lassen hoffen, dass ein kreativer Gedankenaustausch zwischen diesen nunmehr zwei Ausrichtungen des klavierpädagogischen Selbstverständnisses in Zukunft möglich ist und den Begriff W. K. neu definieren hilft.

Die gegenwärtig (2003) unterrichtenden Lehrer:

MUniv.: 1. Institut für Tasteninstrumente: Jan Gottlieb v. Arnim, Jürg v. Vintschger, Peter Efler, Noel Flores, P. Gulda, Roland Keller, Martin Hughes, Michael Krist, O. Maisenberg, Christoph Eggner, H. Medjimorec, St. Vladar, Gerda Struhal, Wolfgang Watzinger, Avedis Kouyoumdjian. 2. Institut L. v. Beethoven (Tasteninstrumente in der Musikpädagogik): Leonore Aumaier, Peter Barcaba, Adrian Cox, Helena Fleischmann, Carmen Graf-Adnet, Klara Harrer-Baranyi, Inci Häusler-Altinok, Michael Hruby, Paul Stejskal, Stefan Gottfried, Christiane Karajev, Ursula Kneihs, Jochen Köhler, Marija Köhler, J. Kutrowatz, Michael Lipp, Johannes Marian, Ingeborg Marko, Harald Ossberger, Anna Pfeiffer, Wolfgang Riedel, Carlos Rivera-Aguilar, Alexander Rößler, Michael Rydholm, Szigmond Szabo, Matthias Trachsel, Antoinette v. Zabner, Natascha Veljkovic, Manfred Wagner-Artzt, Manon-Liu Winter.

Konservatorium der Stadt Wien: D. Adam, Karl Barth, R. Batik, Jutka Behar, Stefanie Damev, Gerhard Geretschläger, Igo Koch, Thomas Kreuzberger, Johannes Kropfitsch, Otto Probst, Franz Zettl.


Literatur
The Piano 1980; D. Gill (Hg.), Das große Buch vom Klavier 1983; U. Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten 21982; G. Wehmeyer, Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier 1983; C. Czerny, Erinnerungen aus meinem Leben 1968; A. Kullak, Die Ästhetik des Klavierspiels 21876; E. Roth, Klavierspiel und Körperbewußtsein in einer Auswahl klaviermethodischer Zitate 2001; R. M. Breithaupt, Die natürliche Klaviertechnik 1906; W. Niemann, Meister des Klaviers 1919; H. C. Schonberg, Die großen Pianisten 1972; J. Dichler, Der Weg zum künstlerischen Klavierspiel 1948; J. Dichler, Verstand und Gefühl 1965; E. Tittel, Die Wiener MHsch. 1967.

Autor*innen
Harald Ossberger
Letzte inhaltliche Änderung
04/03/2022
Empfohlene Zitierweise
Harald Ossberger, Art. „Wiener Klavierschule‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 04/03/2022, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x003d469f
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.


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10.1553/0x003d469f
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