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Rufe
Nach allgemeinem Sprachgebrauch kurze, laute, spontane Äußerungen von Menschen wie von Tieren, mit denen in der Regel etwas ganz Konkretes bezweckt und jedenfalls Aufmerksamkeit geheischt wird (Hilfe-, Balz-, Weckruf u. a.). Sie bewegen sich oft im vormusikalischen Bereich, haben aber beim Menschen auch zu typologisch zuordenbaren Melodie- und Texttypen geführt, die durch Generationen weitertradiert und variiert werden. Viele sind mit bestimmten Tätigkeiten verbunden, wie z. B. Almrufe und Hirtenrufe, das gilt aber auch für Nachwächter-R.e, Kauf-R., Schlacht-R., Lock- und Scheuch-R., Juchzer und Brauch-R. Fast alle R. sind Freiluftmusik.

(I) Die Nachtwächter waren zu ihren Stunden-R.n verpflichtet, damit jedermann wusste, dass sie ihre Tätigkeit auch wirklich ausübten. Die älteste gesicherte Bezeugung liefert Benvenuto Cellini 1537 anlässlich einer Schweizreise. Die rezenten Aufzeichnungen dokumentieren Stunden-R. und Tagelieder in großer Vielfalt, unter denen sich auch Moll-Melodien und Rezitative finden, sowie auf bestimmte Anlässe, meist Neujahr, bezogene Texte, oder auch Scherzhaftes („Lost auf ihr Herrn und låßt enk sågn, in Pfårrer håbns in Hund daschlågn“).

Kauf-R., mittels derer Händler ihre Waren anpreisen, sind ein städtisches Phänomen, das seit dem 17. Jh. aktenkundig ist (zuerst durch Bildserien aus Paris, Rom und Bologna/I) und durch seine Widerspiegelung im Volksschauspiel und in diversen Musikstücken zur Ausprägung charakteristischer Volkstypen (Aschenmann, Bandelkramer, Lumpensammler, Kohlenhändler, Milchweib), auch zur karikierenden Nachahmung fremdsprachiger Händler („Zwiefel-Krowot“, „Pinkeljud“ u. a.) geführt hat. In Wien sind die „Lavendelweiber“, die oft zu zweit mit einem zweistimmigen Lied auftreten, heute (2005) noch bekannt. Weitaus schlechter dokumentiert sind Schlacht-R. der Soldaten; dem Bataillonsruf der „Kopaljäger“ (Italien 1848) hat H. Commenda einen Beitrag gewidmet.

Lock- und Scheuch-R. sind in der Viehhaltung notwendig. Oft wird dabei die Lautsprache der Tiere nachgeahmt; sie werden durch die Kopfstimme auf der Weide angesprochen und durch einen Gang in die Bruststimme gleichsam „herbeigeholt“. In der Schweiz wurden solche R. zu den berühmten „Kühreihen“ ausgestaltet, die bereits in Georg Rhaws Bicinia von 1544 belegt sind. Juchzer sind R., die zwischen Jodler und unartikuliertem Schrei stehen und bei allen möglichen Gelegenheiten vorkommen: bei Arbeiten im Freien, als Ankündigung einer gerufenen Botschaft, beim Tanzen, beim Kiltgang, beim Schifahren usw. Unter den Brauch-R.n sind v. a. die R. der Ratscherbuben dokumentiert worden. In katholischen Gebieten (Schlesien, Rheinland, Süddeutschland, Österreich) verkünden sie in den Kartagen, an denen keine Glocken läuten, den Gläubigen die Gebetszeiten, unterbrochen durch den Klang der mitgeführten Ratschen (hölzerne Schrapidiophone; Lärminstrumente).


Literatur
Lit (alphabet.): E. K. Blümml in Das dt. Volkslied 3 (1901); H. Commenda in Das dt. Volkslied 19 (1917), 20 (1918), 21 (1919) u. 39 (1937); W. Deutsch in JbÖVw 14 (1965); O. Eberhard in Das dt. Volkslied 30 (1928); E. Fink, Der Jodler im Bregenzerwald, Dipl.arb. Wien 1998; H. Gielge in Das dt. Volkslied 30 (1928); H. Gielge, Klingende Berge. Juchzer, R. und Jodler 1937 (Faks. 1992); H. Gielge, Rund um Aussee! Volkslieder, Jodler und R. aus dem steiermärkischen Salzkammergut 1935; G. Haid in R. Morelli, Identità Musicale della Val dei Mòcheni 1996; K. M. Klier in ÖMZ 18/2 (1963); K. M. Klier in Das dt. Volkslied 38 (1936); K. Liebleitner in Das dt. Volkslied 41 (1939); K. v. Linthoudt, Das Ratschen im niederösterr. Marchfeld, Dipl.arb. Wien 1990; H. J. Moser, Tönende Volksaltertümer 1935; R. Pietsch in Salzburger Volkskultur 2001; J. Pommer, 444 Jodler und Juchezer aus Steiermark und dem ostmärkischen Alpengebiet ND 1942; C. Rotter, Sing mar oans. Volkslieder, Jodler, Juchezer und R. aus der Slg. Otto Denggs und anderen Quellen 1926; M. Schilder in JbÖVw 14 (1965); L. Schmidt in Das dt. Volkslied 39 (1937); F. Schunko in JbÖVw 12 (1963); G. Schwertberger in JbÖVw 14 (1965); H. Thiel in R. Pietsch (Hg.), Die Volksmusik im Lande Salzburg 2 (1990); H. Thiel in W. Deutsch (Hg.), Beiträge zur Volksmusik in Vorarlberg und im Bodenseeraum 1983; J. Wichner, Stunden-R. und Lieder der dt. Nachtwächter 1897.


(II) Die ältere Form der liturgischen R. sind ein- oder zweizeilige litaneiartige Akklamationen, mit denen sich die Gemeinde im Kontext diverser liturgischer Feiern artikuliert hat. Die Anrufung Kyrie eleison (Kyrieleis als Krasis zweier Wörter, die mit dem gleichen Vokal enden bzw. beginnen) war eine spätantike Herrscherakklamation, ein Jubelruf, der gleichzeitig Bitte um Zuwendung signalisierte. In der Liturgie (v. a. bei Litaneien) häufig verwendet, verblieb dieser R. als letzter Rest der Gemeindebeteiligung bei diversen Gottesdiensten. Orte der R. waren das Ende der Predigt, Prozessionen oder besondere liturgische Feiern wie Inthronisationen usw. Praktiken dieser Art sind durch das Salzburger Konzil von 799 bezeugt. In der Chronik des Cosmas heißt es bei der Inthronisation des Bischofs Dethmar von Prag 973 nach dem Te Deum: „simpliciores autem et idiotae clamabant Kyrieeleison“. Im Unterschied zu den Leisen, welche eine geschlossene Liedform darstellen, gehören R. zu den offenen Litaneiformen. Sie sind seit dem 10. Jh. auf deutsch und tschechisch überliefert. Bekannt ist der R. für die Schlacht auf dem Marchfeld (1278): „Sant Mari, muoter, unde meit, all unser not si dir gechleit“, welcher auch bei den Geißlern zu finden ist (Geißlerlieder) und dann Bestandteil des R.-Liedes „Es sungen drei Engel ein süßen Gesang“ wurde. Das Seckauer Cantionar, ein Beiband zum Liber Ordinarius 1345 (A-Gu 756) enthält zahlreiche R.

Die jüngere Form des R.s sind zweizeilige Prozessionslieder, die zeilenweise vor- und nachgesungen worden sind. Dieser Typus ist spätmittelalterlich, wurde aber meist erst im 16. und 17. Jh. aufgezeichnet und ist auch heute noch in Gemeindegesangbüchern lebendig. Eine Hauptquelle ist das Gesangbuch des N. Beuttner, Graz 1602, dessen „Register dess Andern Thails Catholischer Creutzgesaenger vnd Kirchfaerter Rueff“ insgesamt 95 solcher vielstrophigen R.-Lieder nach Melodienamen und Incipit auflistet. Beuttner hat als Schulmeister von St. Lorenzen im Mürztal/St auf Geheiß der Grazer Jesuiten im Dienste der katholischen Reform diese Gesänge in seiner näheren Umgebung aufgezeichnet. Zwei Melodien aus diesem Gesangbuch stehen heute noch im katholischen Einheitsgesangbuch Gotteslob.


Werke
Ausg.: N. Beuttner, Catholisch Gesang-Buoch, Graz 1602 (Reprint Graz 1968).
Literatur
W. Lipphardt in Musik und Altar 13 (1960); W. Lipphardt, Hymnologische Quellen der Steiermark und ihre Erforschung 1974; V. Mertens in Zs. für Dt. Altertum und Dt. Literatur 104 (1975); B. Schmid in H. Musch (Hg.), Musik im Gottesdienst 1 (1994); F. K. Praßl in Ch. Möller (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Gesch. 2000; F. K. Praßl in L. Kačic (Hg.), [Kgr.-Ber.] Cantus Catholici a duchovná pieseň 17. storočia v strednej Európe – Cantus Catholici und das Kirchenlied des 17. Jh.s in Mitteleuropa. Bratislava 2002, 2002.

Autor*innen
Gerlinde Haid
Franz Karl Praßl
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2005
Empfohlene Zitierweise
Gerlinde Haid/Franz Karl Praßl, Art. „Rufe“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2005, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dff2
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