Dies wird schon an der Frage nach dem jeweils implizierten Musikbegriff deutlich: Die Selbstzuschreibung als M. Ö. ist eine Begleiterscheinung der im Zuge der Urbanisierung erfolgten Professionalisierung und Standardisierung des bürgerlichen Musikbetriebes (bürgerliche Musikkultur), seiner Produkte, Institutionen und Praktiken, d. h. sie steht in enger Verbindung mit der Vorstellung von der „Musikstadt Wien“ als Brennpunkt der mit Stolz als klassisch bezeichneten Tradition und als zentralem Schauplatz des musikalischen Fortschritts von (als deutsch konnotierter) Kunstmusik, die solchermaßen als kulturelles Paradigma der hegemonialen Macht dient, zunächst also der Gesamtstaatsidee, danach (seit dem Ende der Monarchie) der nationalen (deutschen bzw. österreichischen) Identität. Damit hatte der Begriff von Anfang an einen historischen, zunehmend musealen Aspekt, indem nicht nur die Produktion bedeutsamer Werke, sondern auch deren besonders sachgerechte Aufführung (Wiener Klangstil) auf eine länger zurückliegende, glorreiche Vergangenheit verweisen sollte – dies, obwohl sich das kulturelle Selbstverständnis als M. Ö. im Unterschied zu gegenwärtigen Verhältnissen in der aktiven Befassung mit zeitgenössischer Kunstmusik äußerte, deren ästhetische Normen und Aufführungsstandards im Sinn bürgerlicher „raisonnierender Öffentlichkeit“ Gegenstand diskursiver Auseinandersetzung war. Musik dient der Bestätigung (von Kulturbesitz, von Identität) und gilt nicht wie im Konzept der Avantgarde als „kritische Instanz“, weshalb etwa die für das sog. M. Ö. als verpflichtend erhobenen und ästhetisch („Erneuerung“) oder finanziell („Sparmaßnahmen“) begründeten Forderungen nach öffentlicher Unterstützung zeitgenössischer Produktion in den 1920er oder 1950er Jahren Einzelfälle geblieben sind und musikalische Traditionspflege im immer noch von der „Musikstadt Wien“ dominierten Bild des (kunst)musikalisch bedeutenden Landes eine wesentliche, mit der Gültigkeit des entsprechenden, kanonisierten Konzert-Repertoires zusammenhängende und deshalb heute umstrittene Rolle spielt. Zusätzlich zur Kunstmusik wird schon seit der Moderne auch die Volksmusik im weitesten Sinn (bis zur Popularmusik) in den Begriff mit einbezogen, 1) weil sie eine für das Identitätskonzept des 19. Jh.s (Volksgeist) notwendige biologische Konstante einführt, nämlich die angeborene Begabung für und Neigung zu Musik („Volk der Tänzer und Geiger“), die auch als Basis der überragenden Kunstmusikproduktion verstanden wurde, und – besonders im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes als Schlagwort seit der Institutionalisierung von Fremdenverkehr Anfang des 20. Jh.s. – 2) weil sie den Reiz von Lokalkolorit einbringt. Und auch die seit den 1970er Jahren mit unterschiedlicher Bedeutung stattgefundene Regionalisierung historischer Formen der internationalen musikalischen Jugendkultur macht diese als Element der Identitätsstiftung und damit als Bestandteil des entsprechenden Paradigmas österreichischen kulturellen Gedächtnisses verwendbar (Austropop, Neue Volxmusik).
Betrachtet man die Entwicklung des Musikbetriebes und die musikhistorische Ideengeschichte Österreichs unter dem Aspekt dieses Begriffes, fällt auf, dass die gehäufte Verwendung des Begriffes M. Ö. oft politische Krisenzeiten markiert, in denen ein auf Musik bezogenes Kulturbewusstsein zur Identitätsbestimmung herangezogen wurde. Die Propagierung einer besonderen Nähe zur als Kunst angesehenen und gleichzeitig als unpolitisch, d. h. als politisch unverdächtig geltenden Musik dient dabei auch der Sympathiewerbung nach außen – ein Argumentationsmuster, das nach 1918, im Austrofaschismus (Aktion: Musikliebhaber nach Österreich; Faschismus) und nach 1945 mit gleicher Vehemenz vertreten wurde und das besondere Interesse am „musikalischen Wiederaufbau“ nach beiden Weltkriegen bewirkte (Abhaltung von Festwochen [Musikfeste], Aufbau des Opernhauses etc). Ein musikalisch prominentes Beispiel für die erfolgreich transportierte Konstruktion solcher Zuschreibung ist das bis heute als idealtypischer Ausweis für das Attribut als Musikland gehandelte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Der in den letzten Jahren gesteigerte Hype um den möglichst rasch stattfindenden veröffentlichten (Bild-)Tonträger des Ereignisses und der Umstand, dass ihn seine Verkaufszahlen zu einem Objekt der Hitparaden machen, ist charakteristisch für die Perfektionierung des Musikgeschäfts, die auch die Ware M. Ö. erfasst (Musikindustrie).
Als Zentralfigur dieser Gedächtniskonstruktion fungiert spätestens seit 1945 W. A. Mozart, in diesem Zusammenhang Schutzpatron des M.es Ö. Auch die zunehmende Emanzipation der Bundesländer lässt sich anhand der näheren Bedeutung dieser Zuschreibung nachzeichnen, indem die Ausdifferenzierung des Musikbetriebes, die stärkere Vermarktung von Volks(tümlicher) Musik und die lokalkolorierten Formen von Popmusik mit ihren jeweiligen Veranstaltungs- und Distributionsformen in Verbindung mit der Fremdenverkehrswerbung (die ebenso auf einheimische Zielgruppen abgestellt ist) das M. Ö. ständig im kulturellen Gedächtnis wachrufen und seine Bedeutungszuschreibung aktualisieren. Bilden also Volks- bzw. Popularmusik seit 1945 zunehmend die im Fremdenverkehr als exotische Aktivität vermarktete Grundlage der Feste und Feiern im ländlichen Bereich, so sind auch die Blaskapellen (Blasorchester) in ihrer traditionellen (nicht in der nach symphonischer Qualifikation ausgerichteten) Form als musikalische Praxis mehr denn als Objekt passiven Konsums kultureller Besitz und Identifikationselement.
Das Verständnis, der Begriff und der Vertrieb von Kunstmusik hat sich heute geändert, aber auch im Bereich der traditionellen, als „naturgegeben“ und „unveränderlich“ angenommenen Formen musikalischer Praxis sind Umschwünge festzustellen, die ebenfalls die Ausweitung des Musikbegriffes und die mit dieser Praxis verbundenen Einstellungen betreffen. Die heute selbstverständliche Gleichzeitigkeit nicht nur eines mehrere hundert Jahre umfassenden Erbes (Museum) an Kunstmusik, sondern v. a. einer volkstümlichen und Popular-Musik in unterschiedlichsten Stilen und Funktionsformen ist historisch eine neue Situation, die sich auf den mit dem Begriff M. Ö. festgeschriebenen Zusammenhang auswirkt. Seine Funktion im Rahmen des österreichischen Selbstverständnisses wirkt auch bis heute auf den Sprachgebrauch, wenn die Existenz einiger für das improvisatorische sowie elektronische Verändern und Kombinieren von digitalisierter Musik (sampling) prominente Disc-Jockeys (DJ, DJ-ing) zuweilen mit dem Schlagwort „3. Wiener Schule“ bedacht und damit an die traditionelle Idee herausragender österreichischer Leistungen auf dem Gebiet der Musikproduktion (als 2. Wiener Schule nach der „Wiener Klassik“ gilt der „Schönbergkreis“) angespielt wird.
R. Flotzinger in F. Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österr. Kultur zwischen 1918 und 1938 , 1981; G. Schweiger, Österreichs Image in der Welt. Ein weltweiter Vergleich mit Deutschland und der Schweiz 1992; C. Szabó-Knotik in S. Ingram et al. (Hg.), Identität. Kultur. Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nordamerika und Zentraleuropa 2001; C. Szabó-Knotik in P. Kuret (Hg.), [Kgr.-Ber.] Musik zwischen den beiden Weltkriegen und Slavko Osterc. Ljubljana 1995 , 1996.