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Exotismus
Seit der Mitte des 19. Jh.s verwendeter Stilbegriff. Darunter wird in erster Linie die Einbeziehung außereuropäischer, generell aber auch fremdartig wirkender Elemente verstanden. Der Terminus wurzelt in dem erstmals von François Rabelais in seinem Quart livre des faictz et dictz heroiques du noble Pantagruel (1548/1552) verwendeten Wort exotique mit dem er alles Nicht-Europäische (vornehmlich auf die Pflanzen- und Tierwelt bezogen) bezeichnete. Ab dem 18. Jh. wurde der Begriff auf ästhetische Phänomene übertragen. Im frühen 20. Jh. ist E. auch als psychische Intentionalität verstanden worden, bei der es einerseits um die ästhetische Wahrnehmung des Anderen (z. B. V. Segalen, Essai sur l’Exotisme, une Esthétique du Divers 1904), andererseits auch um psychische Projektionen und Phantasieleistungen geht (F. Brie, E. der Sinne 1920). Das Exotische als bloße Imagination, die jederzeit den Rückzug auf die Traditionen abendländischen Kulturbewusstseins offenhält, ließ E. zu einem gleichermaßen gefahrlosen wie ästhetisch fragwürdigen Unternehmen werden, das etwa E. M. v. Hornbostel in seinem 1921 erschienenen Aufsatz Musikalischer E. entsprechend scharf kritisiert hat. Ein weiterer Aspekt des vielschichtigen Phänomens E. artikuliert sich in den v. a. zu Beginn des 20. Jh.s virulenten Weltmusikkonzepten (Georg Capellen, Abraham Jeremias Polak), die eine Synthese abendländischer und orientalischer Musikstile durch Amalgamierung exotischer Melodik mit europäischer Harmonik propagierten. Die Anfänge eines musikalischen E. reichen bis in die Renaissance zurück. Bereits in den im 15.–17. Jh. weitverbreiteten Moresken wurden exotische Phantasiesprache und fremdartig klingende Musik verwendet (so z. B. bei O. di Lasso, 1581). Im 17. und 18. Jh. war die Oper die bevorzugte Gattung exotischer Elemente. Diese bezogen sich zunächst in erster Linie auf die visuelle Komponente. Paradigmatisch für eine Durchdringung auch der sprachlichen und musikalischen Ebene mit Exotismen sind Jean-Baptiste Moliéres/Jean-Baptiste Lullys Le bourgeois gentilhomme (1670) und Jean-Philippe Rameaus Les Indes galantes (1735), sowie – im österreichischen Raum – W. A. Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) und A. Salieris Le Couronnement de Tarare (1787). Die damit gesetzten Modelle einer „türkischen Musik“ wurden u. a. in G. Rossinis Maometto II (1826) und Le Siège de Corinth (1826) zu einem integralen Bestandteil des musikalischen Dramas. Die für letztgenannte Opern signifikante Verwendung von Exotismen für eine spezifische musikalische „couleur locale“ spielt in exotischen Opern des 19. Jh.s eine entscheidende Rolle. Als Pionierwerk für den im 19. Jh. besonders beliebten Orientalismus muss Félicien Davids symphonische Ode Le Désert (1844) betrachtet werden, die auf eine zweijährige Reise Davids im Nahen Osten zurückgeht. Mit den um die Jh.wende einsetzenden Gastspielen außereuropäischer Ensembles sowie den Weltausstellungen, innerhalb derer kulturelle Darbietungen eine zunehmend wichtige Rolle gespielt haben, wurden für zahlreiche europäische Komponisten und Musikwissenschaftler authentische Klangerfahrungen möglich. Claude Debussy hat seine diesbezüglichen Anregungen durch Gamelanmusik im Rahmen der Pariser Weltausstellungen 1889 und 1900 v. a. in verschiedenen Klavierwerken umgesetzt. Otto Abrahams und E. M. von Hornbostels musikethnologische Studien über japanische Musik (1903) oder Carl Stumpfs Abhandlung Tonsystem und Musik der Siamesen (1901) verdanken sich Aufnahmen im Zuge von Darbietungen gastierender Ensembles. Die Gründung der Phonogrammarchive in Wien (1899) und Berlin (1904) ermöglichte – unabhängig von Forschungsreisen und Gastspielen – eine wesentlich breitere Verfügbarkeit an Klangquellen außereuropäischer Musik. G. Mahler standen zur Zeit der Komposition seines Liedes von der Erde einige Wachswalzen mit chinesischer Musik zur Verfügung, G. Puccini konnte für seine Opern Madama Butterfly und Turandot auf Schallplattenaufnahmen japanischer und chinesischer Musik zurückgreifen. Allerdings dominierten im Opern- und Operettenschaffen – trotz wachsender Kenntnisse über außereuropäsche Kulturen – nach wie vor exotistische Klischeevorstellungen (Puccini, F. Lehár). Im Bereich der k. u. k. Monarchie lassen sich Phänomene eines „Binnen-E.“ feststellen, wobei v. a. „die Darstellung Südosteuropas in der Wiener Operette [...] maßgeblich unter dem Aspekt des europäischen E. und als dessen Ausdruck zu sehen ist“ (Ch. Glanz). A. Zemlinskys 1933 vollendete Oper Der Kreidekreis (nach Klabund) basiert zwar auf einem chinesischen Sujet, stellt aber eine deutliche Distanzierung von gängigen Konventionen musikalischer Ostasienstilisierung dar, wobei auch gesellschaftskritische Aspekte einen bedeutsamen Raum einnehmen. Eine Bezugnahme auf konkrete historische Ereignisse artikuliert sich in Rolf Lauckners/E. N. v. Rezniceks Oper Satuala (1927), in der die Annexion der Insel Hawaii durch die USA (1898) und der damit verbundene Kahlschlag der genuinen Kultur außerordentlich kritisch interpretiert wird. Die Mythisierung des Exotischen wird hier positives Gegenbild zu einem von Resignation und wohl auch tiefem Misstrauen in die Werte der westlichen Zivilisation geprägten Bewusstsein, wie es in Europa seit dem Ende des 19. Jh.s zunehmend virulent wurde. In den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen rückten – nach Abflauen der Dominanz des Orients – andere Kulturen verstärkt ins Blickfeld. Darius Milhauds auf afrikanischen Mythen basierendes Ballett La Création du Monde (1923) macht etwa intensiven Gebrauch von genuin afroamerikanischen Jazzelementen, die der Komponist selbst während eines Aufenthalts in New York 1922 kennen gelernt hat.

In der Zeit nach 1945 verliert der musikalische E. an Bedeutung. Zwar bleibt die Integration außereuropäischer Musikelemente ungebrochen, diese werden allerdings in erster Linie als musikalisches Material losgelöst von spezifischen Stilisierungen exotischer Kulturen verwendet (so bei der Verwendung indischer Rhythmen im Schaffen Olivier Messiaens oder den symbiotischen Kompositionsformen im Werk Karlheinz Stockhausens). Eine Ausnahme bildet etwa Benjamin Brittens Ballett The Prince of the Pagodas (1956), in dem seine Reise auf die Insel Bali und die Erfahrungen mit dortigen Gamelan-Traditionen nachhaltigen Niederschlag finden. Einem naiven E. wurde insbesondere auch durch nicht-europäische Komponisten (wie z. B. Isang Yun oder Torū Takemitsu) entgegengewirkt, die in ihren Werken eine von klischeehaften Vorstellungen völlig emanzipierte Auseinandersetzung unterschiedlicher Musikkulturen thematisierten.

Wohl nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des E., sondern eher der postmodernen und z. T. auch missverstandenen Globalisierung, ja der zweifelhaften Illusion einer Universal- oder Weltmusik zu sehen sind entsprechende Strömungen in der sog. Neuen Volksmusik.


Literatur
E. M. v. Hornbostel in Melos 2 (1921); P. Gradenwitz, Musik zwischen Orient und Okzident 1977; E. Said, Orientalism 1978; I. Fritsch in Mf 34 (1981); Th. Koebner/G. Pickerodt (Hg.), Die andere Welt. Kultur- und literaturgeschichtliche Studien zum E. 1987; Ch. Glanz, Das Bild Südosteuropas in der Wiener Operette, Diss. Graz 1988; Th. Betzwieser, E. und „Türkenoper“ in der französischen Musik des Ancien Régime 1993; P. Revers, Das Fremde und das Vertraute – Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption 1997; M. Cooke, Britten and the Far East 1998.

Autor*innen
Peter Revers
Letzte inhaltliche Änderung
9.11.2022
Empfohlene Zitierweise
Peter Revers, Art. „Exotismus“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 9.11.2022, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001ccf4
Dieser Text wird unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 AT zur Verfügung gestellt. Das Bild-, Film- und Tonmaterial unterliegt abweichenden Bestimmungen; Angaben zu den Urheberrechten finden sich direkt bei den jeweiligen Medien.

MEDIEN
Das Volk der westafrikanischen Aschanti im Wiener Prater (Wiener Bilder, 19.7.1896, 5 [„Afrika in Wien“])© ANNO/ÖNB

DOI
10.1553/0x0001ccf4
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