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Oratorium
Vokal-instrumentale Gattung, deren Bezeichnung von einer (kleinen) Kirche abgeleitet wurde, welche im Besitz einer Privatperson ist und in welcher mit Erlaubnis des Ortsordinarius Messe gefeiert werden darf. Der Hl. Filippo Neri pflegte in solchen Kirchen auch religiöse Zusammenkünfte mit Lesung geistlicher Bücher, wissenschaftlichen Vorträgen und religiösen Gesängen abzuhalten und so ging der Begriff des Raumes alsbald auf diese Zusammenkünfte selbst über. Als dann der Priesterkreis um San Filippo sich als religiöser Orden konstituierte, erhielt er die Bezeichnung Congregazione dell’ Oratorio. Spielte bei den Zusammenkünften des Oratorio von Anfang an Musik eine bedeutende Rolle, so spezifizierte sich die musikalische Kunstgattung O. erst etwa 70 Jahre nach den ersten O.s-Zusammenkünften, als Pietro della Valle 1640 ein Werk expressis verbis als „oratorio“ bezeichnete, so dass von da an ein und dasselbe Wort für zwei zwar in Verbindung stehende, jedoch voneinander verschiedene Begriffe stand.

Vergleicht man die Verbreitung der Gattung O. in den europäischen Ländern, so mag es auf den ersten Blick überraschen, dass relativ bald auf österreichischem Boden die Bezeichnung „oratorio in musica“ aufscheint: 1657 bezeichnet Erzhzg. Leopold Wilhelm, Fürstbischof von Passau, sein Werk mit diesem Namen (Giov. Valentinis Santi risorti von 1643 und Vita di Sant’Agapito tragen noch nicht diesen Namen). Eine schlüssige Erklärung für dieses Phänomen dürfte in dem italienischen Einfluss begründet sein, welchen Leopold Wilhelms Stiefmutter, K.in Eleonore (I.) aus dem Haus Gonzaga, in Wien festigte. Gerade aber die Person dieser Kaiserin gibt auch die Erklärung, warum – im Gegensatz zu Rom und Italien, wo religiöse Orden, voraus die Oratorianer (Filippiner), Träger dieser Kunstgattung waren – in Wien der Kaiserhof die Heimat des O.s wurde. (In Nachahmung dieser Patronanz waren auch in Graz, Salzburg, Innsbruck die landesfürstlichen Repräsentanten Träger der O.s-Pflege.

Einen ungeahnten Aufschwung erhielt das O. in Wien unter der Herrschaft Leopolds I. Er selbst steuerte dem Genre O. acht Werke bei, die in kaiserlichen Diensten stehenden italienischen Hofmusiker, P. A. Ziani, A. Bertalli, G. F. Sances und ganz besonders A. Draghi leisteten reichlich ihren Tribut. Insgesamt entstanden im halben Jh. der Herrschaft Leopold I. mindestens 145 O.en.

In dieser Epoche entwickelt sich als Sonderform des O. das „Sepolcro“ welches halbszenisch aufgeführt wurde. Gerade dieses macht deutlich, wie sehr das O. der Zeit als Zwillingsbruder der zeitgenössischen Oper betrachtet werden kann. Vokal- und Instrumentalbesetzung, Struktur und schließlich szenische Darstellung weisen darauf hin; die im Unterschied zur opera seria etwas gerafftere Nummernfolge und somit erträglichere Länge eines Werkes sowie die Bevorzugung des recitativo accompagnato im Gegensatz zu den Secco-Rezitativen der opera seria stellten sogar einen Vorzug dar. In der numerischen Relation der Aufführungen freilich konnte das O. sich nicht mit der Oper messen: im Zeitraum 1660–1740 standen in Wien 350 O.en 1050 Opern gegenüber!

In der Regierungszeit Karls VI. wurde die Leopoldinische Tradition fortgesetzt, als Komponisten figurierten wieder die (vorwiegend italienischen) Hofmusiker und Kapellmeister A. Caldara, G. Conti und C. A. Badia; doch ebenbürtig behaupteten sich auch die bodenständigen Meister J. J. Fux und G. Reutter d. J.

Im Bereich außerhalb des kaiserlichen Hofes waren es die religiösen Orden, welche, wie in Italien, das O. aufgriffen. Freilich hatte der klassische Orden der Oratorianer in Österreich nie Fuß fassen können, auch die Benediktiner blieben zunächst mehr ihrem traditionellen Schuldrama (Benediktinertheater) verpflichtet, um so mehr nahmen sich die Jesuiten der O.s-Pflege an: in Graz sowie in Innsbruck, wo durch Claudia Medici italienischer Geist Einzug hielt, schrieb C. A. Badia drei Sepolcri.

Mit dem Regierungsantritt Maria Theresias verlor das O. in Wien und passim in Österreich seine dominierende Stellung, was auch mit der einsetzenden Säkularisierung der Gattung einherging: aus einer paraliturgischen Frömmigkeitsform wurde ein Konzert, an die Stelle der Kirche als Aufführungsort traten Konzertsaal und Theater. Die Gründung der Tonkünstlersozietät 1771 besiegelte die neue Auffassung des O.s als Konzertgattung. Allerdings, musikalisch und literarisch änderte sich zunächst nichts, P. Metastasios Libretti blieben unverwüstlich gültig (sein Passions-O. wurde in der Komposition von G. Paisiello 1784 im Burgtheater aufgeführt, dasselbe Libretto vertonte noch 1804 J. Weigl, als eines der letzten italienischen O.en in Wien). Von den O.en der Tonkünstlersozietät ragen qualitativ besonders hervor: C. Ditters v. Dittersdorfs L’Ester, J. Haydns Il ritorno di Tobia (1775) und W. A. Mozarts Davide penitente (1785).

Die Tendenz Josephs II., in Oper und Kirche die deutsche Sprache auf Kosten der italienischen bzw. lateinischen durchzusetzen, wirkte sich auch auf das O. aus: noch vor Haydns Schöpfung fiel der junge J. Eybler mit seinem O. Die Hirten an der Krippe 1794 auf, 1796 vollendete J. Haydn sein erstes deutsches O. Die sieben Worte des Erlösers am Kreuze, 1799 folgte die Schöpfung, 1801 die Jahreszeiten. Spätestens bei diesem Werk ist für den Wiener und österreichischen Bereich die Bindung des O.-Librettos an religiöse Thematik aufgegeben. – Im Soge des Erfolges von Haydns Meisterwerken folgten in den nächsten 50 Jahren durchaus beachtliche Beiträge zum O.: M. Stadlers Befreiung Jerusalems 1813, L. v. Beethovens Christus am Ölberge 1803, Fr. Schuberts O.s-TorsoLazarus 1820, I. Assmayrs Saul und David 1840.

Die 2. Hälfte des 19. und das 20. Jh. sind schwerpunktmäßig eher durch die Wiedergabe historischer Werke geprägt, doch finden sich auch zeitgenössische Komponisten, wie F. Schmidt (Das Buch mit sieben Siegeln 1937) und E. Krenek (Symeon der Stylit 1938 und sein Alterswerk opus sine nomine 1988).


Literatur
H. E. Smither, A history of the oratorio 1977; G. Massenkeil, O. und Passion 1998; MGÖ 1–3 (1995); R. Schnitzler, The sacred dramatic music of Antonio Draghi 1971; R. Flotzinger in Hist. Jb. Stadt Graz 16/17 (1986); G. Gruber, Das Wr. Sepolcro und J. J. Fux 1972; F. Schubert, Grundzüge der Liturgik 1935; L. Kantner in A. Bini (Hg.), [Kgr.-Ber.] Le voci della Passione. Rom 2000, 2001; A. Manhart, Das O. in Wien zwischen Klassik und Romantik, Diss. Wien 1999.

Autor*innen
Leopold Kantner
Letzte inhaltliche Änderung
30.6.2004
Empfohlene Zitierweise
Leopold Kantner, Art. „Oratorium“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 30.6.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001dbdf
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