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Musical
Moderne Gattung des Musiktheaters, das Gesang, Tanz und Schauspiel mit reichem Instrumentarium, technischem Equipment und opulenter Ausstattung einschließt, sich dem populären Zeitstil anpasst und kommerziell ausgerichtet ist.Terminologisch geht M. auf engl. Musical Comedy bzw. Musical Play zurück. Ursprünglich als Komödie konzipiert, wurden ab den 1940er Jahren zusätzlich ernste Stoffe vertont. Um eine Differenzierung nach Sparten zu vermeiden, verwendete man fortan das Adjektiv M. als Gattungsbegriff.

Im Gegensatz zu Oper und Operette ist das M. nach Fertigstellung nicht abgeschlossen. Da M.-Produzenten im Herkunftsland USA Kosten deckend arbeiten, wird jede Publikumsreaktion kalkuliert, was zu zahlreichen Varianten nach Ort und Zeit führt. So kristallisierte sich kein Schema oder Stil als verbindlich heraus. Vielmehr spiegeln die Stilmittel den jeweiligen Status der musikalischen Unterhaltungskultur, wobei vom Volkslied bis zum Techno-Rhythmus alle Sparten – auch nebeneinander – vertreten sein können. Die Instabilität der Erscheinungsform ist dann aufgehoben, wenn M.s aufgezeichnet oder verfilmt werden. Letzteres betrifft zumeist erfolgreiche amerikanische M.s.

Aus der Perspektive des Komponisten gewährt das M. ein geringeres Maß an Freiheit als Kunstmusik. Weder die Wahl des Sujets noch jene des Librettisten obliegt dem Komponisten, sondern dem Produzenten, der ein Theater für eine Produktion mietet und für Sujet, Personal und Budget verantwortlich ist. Der Produzent stellt dem Komponisten einen Arrangeur zur Seite, um die Produktion zu beschleunigen und – in der ersten Zeit – Defizite der Komponisten, die nicht immer der Notenschrift mächtig waren, zu kompensieren. Zur Optimierung testet man jedes neue Stück vor Publikum und adaptiert es vor der Uraufführung. In Europa unterbleibt dieser Prozess; hier existieren zumeist eigene Bühnen für Operette und/oder M., wobei die Funktion des Produzenten von der Intendanz übernommen wird.

Wie alle anderen Gattungen geriet das M. in Krisen, die jeweils zur Neuorientierung führten: entweder bei den Sujets oder durch die Steigerung der Bühnenpräsenz (z. B. Cats), mitunter bis hin zu akrobatischen Leistungen (z. B. Starlight Express). M.s des ausgehenden 20. Jh. integrieren mittels Elektronik Techniken der Video-Clips.

Historisch betrachtet, wird der Ursprung des M.s oft aus der archetypischen Vorstellung einer Synthese aller Künste im griechischen Drama begriffen, was alle Gattungen des Musiktheaters betrifft. Die kolportierte Ableitung von der Ballad Opera, dem Vaudeville, anderen älteren Gattungen des Musiktheaters oder von John Christopher Pepuschs The Beggar’s Opera (1728) setzt als Herkunftstheorie eine ungebrochene Tradition voraus. Gerade das Fehlen dieser Tradition führte zur bewussten Schaffung einer genuin amerikanischen Gattung. Vielmehr geht der Entstehungsprozess auf Infrastruktur und Einfallsreichtum am New Yorker Broadway zurück, wo Variétés, Shows, Revuen und Operetten europäischer Provenienz miteinander konkurrierten. V. a. die österreichischen Operetten von Joh. Strauß Sohn, K. Millöcker und F. v. Suppè galten bereits am Ende des 19. Jh.s als Kassenschlager.

Tanzwut löste 1907 die englische Übersetzung von F. Lehárs Die lustige Witwe (The Merry Widow) am Broadway aus. Man begnügte sich alsbald nicht mehr mit Walzer, sondern erfand eigene Tänze wie Fox Trot, Turkey Trot, One Step etc. und modifizierte auch die Bühnenstücke in Richtung M. (George M. Cohan). Dennoch blieb es noch einige Zeit beim Import der Operetten von O. Straus, L. Fall, E. Eysler oder E. Kálmán.

Mit dem wirtschaftlichen Erstarken der USA nach dem Ersten Weltkrieg und der Etablierung des Jazz waren in den 1920er Jahren weitere Voraussetzungen für das M. gegeben. Nun adaptierte man neue Operetten von Komponisten der ehemaligen Donaumonarchie als „Viennese American Operetta“, etwa Sigmund Rombergs (* 1887 Nagykanizsa/H) The Student Prince in Heidelberg (1924), The New Moon (1928), oder Rudolf Frimls (* 1879 Prag) Rose Marie (1924) und The Vagabond King (1925).

Die Emanzipation von Europa gelang schließlich aufgrund der Durchdringung mit Jazz. Abstrahiert bedeutet dies die Öffnung zur Populärkultur, die als signifikantes Wesensmerkmal des M.s bis in die Gegenwart gültig blieb. George Gershwin orientierte sich in der Melodiebildung seit Lady, Be Good! (1924) gänzlich am Jazz, behielt aber die Operettenstruktur in der Handlungsführung. Als richtungsweisend gilt Jerome Kerns Show Boat (1927) mit größerer Präsenz des Jazz. Allerdings eignete den meisten Produktionen Revuecharakter mit unzusammenhängender Musik und Defiziten in der Handlung, was Vincent Youman, Cole Porter, Richard Rodgers und Fritz Hart zu verbessern trachteten.

Kurz vor 1930 erwuchs dem M. gewaltige Konkurrenz im Tonfilm (Film). Dieser wurde 1927 mit einem musikalischen Sujet eingeführt, nämlich mit der Verfilmung des Bühnenstücks The Jazz Singer (Remake 1953). Musik sollte im frühen Tonfilm nur bei einem genuin musikalischen Sujet erklingen (Musikfilm); daher wurden sehr bald M.s (in Europa Operetten) verfilmt. An nacherzählbare Handlung gewöhnt, erwartete das Publikum im Film eine Story. Die Chance eines M. auf Verfilmung hing also von einem attraktiven Sujet ab; mithin kam es zu M.-Fassungen von erprobten Stoffen, zumeist aus der Weltliteratur, mitunter auch aus der Bibel.

Immer mehr amerikanische Komponisten konzentrierten sich auf das M.: C. Porter, Irving Berlin, R. Rodgers. Bereichert wurde das M. nach 1933 durch Emigranten (Exil), die vor nationalsozialistischen Verfolgungen flüchteten, etwa K. Weill. Er plante eine typisch amerikanische Oper und schrieb, erfahren im Umgang mit Songs, erfolgreiche M.s für Bühne und Film. Dass er keinen Arrangeur benötigte, verdankte er seiner profunden europäischen Ausbildung, die auch F. Loewe zugute kommen sollte. Bereits 1924 in die USA emigriert, arbeitete er am Theater und komponierte ab 1942 in Zusammenarbeit mit Alan J. Lerner mehrere erfolgreiche M.s, etwa Brigadoon (1947) oder Paint your Wagon (1951), bis ihm 1956 mit My Fair Lady nach George B. Shaws Pygmalion der Durchbruch gelang. Das Stück verbuchte 2717 Aufführungen in ununterbrochener Reihenfolge. 1964 kam My Fair Lady in der Verfilmung von Warner Brothers unter der Regie von George Cukor in die internationalen Kinos. Mit Gigi (1956), Camelot (1960) und On a clear day you can see forever (1965) sind Loewe weitere Welterfolge gelungen. Sein Schaffen wurde mehrfach mit Oscars ausgezeichnet und einige Verfilmungen seiner M.s erfuhren zu Beginn des 21. Jh.s aufwändige digitale Restaurierungen für DVDs.

Während sich Loewe zu seiner M.-Arbeit bekannte, konnten sich andere Emigranten nicht von der Aversion der österreichischen Hochkultur gegen das M. lösen. In Werkverzeichnissen finden sich als Ersatz entweder „Revue-Operette“ oder „Operette“, etwa bei P. Abraham. R. Stolz verstand es, die Gattungsgrenzen zwischen M. und Operette durch seinen Personalstil aufzuheben. Bereits vor seiner Emigration in die USA gelang ihm 1936 die UA des M.s Rise and Shine am Royal Drury Lane Theatre in London mit Fred Astaire. Aus 1942 datiert das M. One Night of Love (UA am Shubert-Theatre in New York), 1945 folgte die UA von Mr. Strauss goes to Boston am Broadway auf ein Libretto des österreichischen Autors A. Grünwald. Nach seiner Rückkehr aus den USA (1946) setzte Stolz seine M.-Produktion neben Revuen und Operetten erfolgreich fort. Rainbow Square erfuhr seine UA am Londoner Stoll-Theatre, während Signorina 1955 sogar am Opernhaus Nürnberg/D, und das Remake der Operette Der süßeste Schwindel der Welt (1937) als M. unter dem Titel Kleiner Schwindel in Paris (1956) im Wiener Theater in der Josefstadt herauskamen. Als nobles Sprechtheater weltweit bekannt, bot diese Bühne Persönlichkeiten wie P. Alexander und H. Qualtinger auf und brachte die Gattung M. einem sensiblen Publikum nahe. 1960 erfolgten die UA.en von Joi de Vivre am Queen’s Theatre London und Trauminsel auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele, von 1963 datiert der M.-Film Ein schöner Herbst.

Stolz leistete einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung des M.s in Österreich, denn die Etablierung des M.s in Amerika fiel in die Zeit des Dritten Reiches, das einen Kulturaustausch durch restriktive Kulturpolitik blockierte. Die Idee, als Kulturnation mit hochwertiger Tradition auf Innovation in der Art des M.s – und auch der Hollywood-Filme – verzichten zu können, hielt sich in Österreich bis in die 1950er Jahre. Durch das Engagement von M. Prawy, der 1946 als US-Kulturoffizier aus der Emigration nach Österreich zurückkehrte und 1955 als Dramaturg und Produktionsleiter an der Volksoper Wien wirkte, gelangten namhafte M.s nach Wien: Kiss me Kate (C. Porter, 1948), Porgy and Bess (G. Gershwin, 1935, EA in deutscher Sprache 1965 an der Volksoper Wien), West Side Story (L. Bernstein, 1957, EA in deutscher Sprache 1968 an der Volksoper Wien) oder Showboat (J. Kern, 1927).

Als M. mit Österreich-Bezug geht das Stück Sound of Music den umgekehrten Weg: Der Regisseur Wolfgang Liebeneiner (1905–87) brachte die Geschichte der Trapp-Familie 1956 als Film heraus, der bereits 1959 Rodgers und Hammerstein für das M. Sound of Music als Vorlage diente. Das M. wurde ebenfalls verfilmt und verzeichnete bis in die Mitte der 1960er Jahre fulminante Erfolge.

In Österreich entdeckte erst die junge Generation um 1970 das M. Das berühmteste M. dieser Ära, Helden, Helden nach G. B. Shaw von U. Jürgens, wurde 1972 im Theater an der Wien uraufgeführt, 1978 hatte M. Rökk zu Ehren E. Halletz' M. Die Gräfin vom Naschmarkt am selben Theater Premiere. Indessen wurden die neuen internationalen M.s, etwa von Andrew L. Webber, Eric Woolfson oder Sylvester Levay, in Österreich rezipiert, ohne dass sich die Zahl der eigenen M.s steigerte. Sehr wohl gerieten immer öfter österreichische Themen zu M.-Sujets: Sigmund Freud (Freudiana, 1990, E. Woolfson), Kaiserin Elisabeth (Elisabeth, 1992, S. Levay) oder W. A. Mozart (Mozart! 1999, S. Levay).

Mit Mozart verbindet sich die Karriere des österreichischen Popmusikers Falco, der Mozart in den 1980er Jahren mit „Rock Me Amadeus“ bedachte. Nach seinem frühen Tod brachten 2000 Johann (Johnny) Bertl (* 1958 bei Wien) und Manfred Schweng (* 1966 Wien) das M. Falco Meets Amadeus mit Songs von Falco und Kompositionen von Mozart am Berliner Theater des Westens heraus, danach als CD, Film, Video und DVD. Als jüngste M.-Produktionen in Österreich begegnen 2000 R. Fendrichs Wake Up (UA am 21.9.2002 am Wiener Raimundtheater) und Dave Stewarts Barbarella – Das M. (UA am 11.3.2004 am Wiener Raimundtheater).

Da die Aufführung von M.s extreme Leistungen von den Ausführenden fordert, wird an einigen Institutionen Österreichs, etwa in Wien oder Klagenfurt, eine fachspezifische Ausbildung angeboten.

Im Prinzip übernimmt das M. des 20. Jh.s die Funktion der historischen Oper, die ihren Nimbus prächtigen Kulissen, reichen Kostümen und pathetischen Stoffen verdankt, aber nach 1945 kaum attraktiv inszeniert wurde. Dass der diesbezügliche Bedarf durch das M. ausgeglichen wird, manifestiert sich sehr deutlich in der Übernahme von Opernstoffen, etwa mit Aida (1999, Elton John, Tim Rice), oder in geschichtsträchtigen Stoffen, wie Ludwig II., uraufgeführt am 7.4.2000 in einem eigens erbauten Festspielhaus am Forggensee/D mit Musik von Franz Hummel (* 1939 Altmannstein/D). Zudem erreicht es durch die einfache, nachvollziehbare Musiksprache mehr Publikum als die Oper.


Literatur
D. M. Flinn, M.! A Grand Tour 1997; T. Sennett, Hollywood M.s 1985; M. Gottfried, More Broadway M.s Since 1980, 1991; M. Linhardt in S. Mauser (Hg.), Musiktheater im 20. Jh. 2002; A. Geraths/Ch. M. Schmidt (Hg.), Hb. der Musik im 20. Jh. M. Das unterhaltende Genre 2002; S. Schmidt-Joos, Das M. 1965; G. Bartosch, Das Heyne M. Lex. 1995; eigene Recherchen.

Autor*innen
Margareta Saary
Letzte inhaltliche Änderung
14.3.2004
Empfohlene Zitierweise
Margareta Saary, Art. „Musical‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 14.3.2004, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001da73
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